Olivier Adam - Keine Sorge, mir geht's gut

Es gibt 2 Antworten in diesem Thema, welches 1.742 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Desdemona.

  • Lili und ihr über alles geliebter Bruder Loïc leben bei ihren Eltern, in der Normalität einer bürgerlichen Kleinstadt bei Paris. Lili macht ihr Fachabitur für Buchhaltung, alles scheint seinen Gang zu gehen.
    Eines Tages jedoch, als sie nach den Ferien bei der Großmutter zurückkehrt, ist Loïc verschwunden, abgehauen nach einem banalen Streit mit den Eltern, wie es scheint.
    Lili und auch ihre Eltern sind am Boden zerstört, fassungslos trauern sie gemeinsam.
    Die Trauer der Schwester jedoch will nicht abebben, scheint gar mit der Zeit lebensbedrohlich zu werden, denn Lili verweigert die Nahrung und magert immer mehr ab. Die Eltern sind voller Sorge um ihre Tochter.
    Erst als Lili Post von Loïc erhält, in der er ihr mitteilt, dass er durch ganz Frankreich reist, um sich selbst zu finden, und dass sie sich keine Sorgen um ihn machen soll, vermag sie ein einigermaßen normales, obschon orientierungsloses, trauriges Leben zu führen. Sie zieht nach Paris und jobbt fortan in einem Supermarkt, lebt von Tag zu Tag in ihrer täglichen, leeren Routine.
    Stets fühlt sie die Abwesenheit ihres Bruders, den sie als Teil von sich betrachtet. Innerlich ist sie dadurch wie zerrissen.
    Ihre Freundschaften sind oberflächlich und unter den Studenten, die sich mit ihrem Wissen und ihrer glänzenden Zukunft brüsten verliert Lili immer mehr von ihrem Selbstwertgefühl; die Männer die sie kennenlernt nutzen sie aus.


    An ihren freien Tagen kehrt Lili oft zu ihren Eltern zurück, wo meist bereits ein weiterer Brief von Loïc auf sie wartet.
    Doch diesmal, als sie ihren Urlaub bei ihren Eltern verbringt, beschließt sie ihren Bruder zu suchen. Die letzen Karten hatten einen Stempel aus Portbail, dort reist sie nun mit ihrem Mietwagen hin. Ab diesem Punkt nimmt Lilis Leben eine ungeahnte Wendung.


    Olivier Adams erster und in Frankreich überaus erfolgreicher Roman brilliert mit seiner berührenden, lebendigen Sprache ebenso, wie mit seiner melancholischen Tiefe und seinen bezaubernden Szenerien.
    Ein Werk in dem sich große Gefühle im kleinen Alltag der Protagonisten offenbaren. Adam zeichnet seine Figuren mit viel Fingerspitzengefühl und sehr authentisch, Lilis Schicksal fesselt bis zum letzten Wort. Man schwebt zwischen Bezauberung, Hoffnung und
    grausamer Menschlichkeit in dieser von Adam erschaffenen Romanwelt.
    Ein einzigartiges unvergessliches Werk!


    Am 22. März startet auch die Verfilmung von "Keine Sorge mir geht`s gut" im Kino. In der Hauptrolle Melanie Laurent, die für ihre schauspielerische Leistung bereits mit dem Prix Romy Schneider ausgezeichnet wurde. Man darf gespannt sein...


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  • Lili und ihr Bruder Loïc waren einfach unzertrennlich, mochten die gleiche Musik, die gleichen Bücher, hatten eine wunderschöne Kindheit und waren auch noch im Teenageralter die besten Freunde.


    Eines Tages allerdings verschwindet Loïc einfach, macht sich auf und davon, und Lili ist untröstlich, wird magersüchtig, will nicht mehr leben. Was sie rettet, ist die erste Postkarte von Loïc, ein Lebenszeichen, das sie aus ihrem tiefen Loch reißt. Sie nimmt eine Stelle als Supermarktkassiererin an, zieht dafür nach Paris, besucht mit Kollegen Partys.


    Doch bei all dem leeren Selbstdarstellungsgerede fehlt ihr etwas, die kleinen Liebeleien, auf die sie sich einlässt, geben ihr hinterher immer nur ein Gefühl des Ausgenutztseins. Und eines Tages macht sie sich auf in die Normandie, wo Loïcs letzte Karten abgestempelt waren, um ihren Bruder zu suchen ... und entdeckt etwas, das ihre Eltern ihr verschwiegen haben ...


    Ein kleines Büchlein, das mit weniger Leerzeilen noch mal deutlich kürzer ausgefallen wäre, mich aber auch ziemlich berührt hat.


    Der Schreibstil ist sehr einfach gehalten, manchmal nervt die Aufzählung der Waren, die Lili auf ihrem Kassenband vorfindet, mit sämtlichen Markennamen, andererseits spiegelt das auch ihren Kosmos, ihre Lebenswirklichkeit. Zwischen den Zeilen spürt man die Liebe zu ihrem Bruder und ihre Verzweiflung, weil er nicht mehr da ist, gleichzeitig ist er in ihrem Kopf ständig präsent.


    Ein wenig gestört haben mich ein paar Dinge, die ich unrealistisch fand, aber das "Gefühl" stimmt, obwohl die Erzählweise ganz unpathetisch ist.


    3ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • „Wenn das Herz weint, sieht keiner seine Tränen…“


    „Trauer ist eine Entwicklung.
    Man muß sie gewähren lassen.“
    (Esther Klepgen)


    Verena Kast gliedert den Trauerprozess in vier Phasen.
    Die erste Phase ist das „Nicht-wahr-haben-wollen“, in der der Betroffene den Verlust verleugnet; die meisten fühlen sich starr vor Entsetzen, zu sehr in der Schocksituation um Empfindungen an die Oberfläche zu lassen. Diese Phase dauert meist mehrere Tage bzw. einige Wochen.
    Die zweite Phase ist die der „aufbrechenden Emotionen“, in der mehrere Emotionen in nicht systematischer Reihenfolge ablaufen – Wut, Angst, Traurigkeit, Melancholie, Freude, Ruhelosigkeit. Der Verlauf dieser Phase ist abhängig von der Intensität der Beziehung zwischen dem oder der Verstorbenen. Sind alle Streitfragen innerhalb dieser Beziehung vor dem Ableben beseitigt worden? Gibt es offene Fragen, offene Konflikte, die nicht beigelegt werden konnten? Viele Trauernde bleiben in dieser Phase stecken – eine offene Auseinandersetzung mit diesen (aggressiven) Gefühlen, vor allem mit der Wut und dem Zorn, findet kaum statt; zum einen ist in der westlichen Gesellschaft Selbstbeherrschung ein hohes Gut und zum anderen ist das offene Ausleben von Gefühlen abhängig von der eigenen familiären Prägung. Oftmals wird die Trauer verdrängt, auch mischen sich Schuldgefühle in den gedanklichen Prozess. Erst, so Verena Kast, wenn man sich offensiv mit seinen Emotionen, seinen Ängsten und Gedanken auseinandersetzt, auch Gefühle wie Wut und Hilflosigkeit zugelassen werden, kann die dritte Trauerphase erreicht werden.
    In der dritten Phase wird der Verstorbene bewusst oder unbewusst „gesucht“. Die Konfrontationen mit Fotos, mit Bildern, mit Erinnerungen an diese Person, mit kreativen Arbeiten dieser Person (usw.) bewirken, dass der Trauernde sich der Veränderung dieser Beziehung bewusst wird. Der Verstorbene wird zum „inneren Begleiter“, mit dem in den Dialog tritt, um eine neue Beziehung aufzubauen. Im schlimmsten Fall entwickelt der Trauernde ein „Pseudoleben“ mit den Verstorbenen, in dem sich nichts verändern darf und eine Isolation von Lebenden, vor allem von der Familie und von Freunden, auftritt. Die Trauerarbeit wird konstruktiv fortgesetzt, wenn der „innere Begleiter“ zu einer Person wird, die sich verändern oder weiterentwickeln kann. Vom Vorteil wäre es, wenn offene Konflikte und Probleme mit dem Verstorbenen aufgearbeitet werden können.
    In der vierten Phase sucht der Trauernde einen „neuen Selbst- und Weltbezug“. Der Verlust ist in soweit akzeptiert, dass der Verstorbene nun mehr ein „innerer Begleiter“ geworden ist. Neue Rollen, neue Lebensziele, neue Lebensmöglichkeiten, neue Lebensziele können mögliche Gedanken sein. Die Vergänglichkeit einer jeden Beziehung, der Tod also als ein fester Bestandteil auch der eigenen Existenz wird als Erfahrung integrierbar in die eigene Gedanken- und Erlebniswelt. Ideal wäre es, wenn man sich trotz der negativen Erfahrung auf neue Bindungen einlassen und die Endlichkeit dieser akzeptieren kann.


    „Lili hat das starke Gefühl, dass sie sich hier, an ihrem äußersten Rand, an ihrem nahen Ende, ja, in ihrer Zurückgezogenheit genau wie Loїc – weil sie ja gleich sind, identisch – als Teil der Welt fühlen könnte.“


    Lili ist gefangen in ihrer eigenen Welt. Sie um die zwanzig, arbeitet als Kassiererin; ihre Beziehung zu Männern ist wechselhaft und ohne viel Zärtlichkeit, Liebesbeziehungen führt sie nur selten. Kurze sexuelle Erlebnisse, kleine Abenteuer nach denen sie sich benutzt, ungeliebt, ja, beinahe vergewaltigt fühlt, beherrschen ihren trostlosen Alltag. Bekanntschaften zu anderen Menschen sind selten und wenn, betrachtet man sie nicht als vollwertigen Gesprächspartner. Sie gehört nicht zur „neoliberalen und scheinintellektuellen“ Gesellschaft auf den Parties im Quartier Latin, die sie nur widerwillig besucht. Sie lässt sich mitreißen, wirkt eher passiv, eher zurückhaltend. Im Gegensatz zu ihren Bekannten studiert sie nicht, hat sie kein Interesse an feinen Parties, an französischen Philosophen oder dem Film Noir. Ihr einziges Interesse, ihre ganzen Gedanken drehen sich nur um eine Person: Loїc. Er war der jüngere Bruder und doch für sie die Leitfigur in ihrem jungen Leben. Ihre gesamte Gedankenwelt dreht sich, auch Jahre nach seinem Verschwinden, nur ihm. Sie sucht ihn, fährt zu den Orten, von denen er ihr Postkarten schickt mit kurzen Texten, ein paar eilig formulierten Sätzen:

    „Ich denke an dich. Ich umarme dich. Keine Sorge, mir geht’s gut.“


    Wie eine Matrjoschka – ineinander verschachtelt, immer kleiner werdend – baut sich die Handlung auf und entwickelt eine Form von Krimi-Charakter. Der Leser ist mit der Melancholie, der Traurigkeit, der Hilflosigkeit, mit der Lili ihren Bruder sucht, konfrontiert. Ist er nur verschwunden? Wohin ist er gegangen? Kommt er wieder? Und vor allem: Warum ist er gegangen? Diese Fragen werden indirekt gestellt und nur sehr vage beantwortet. Ein Faktum ist: Er ist verschwunden, auf die eine oder andere Art. Lili kann nicht weiterleben; immer wieder beschäftigt sie ihr verstorbener Bruder, sie tritt in den Dialog mit ihm, bezieht ihn in ihre Entscheidungen mit, reagiert sogar emotional – wütend nämlich – als er sie nicht vor einer schlechten Erfahrung bewahren kann. Sie kann keinen Abstand nehmen von dieser Figur, er bleibt ein „innerer Begleiter“.


    Oliver Adam hat sich als eine Art Cameo an der Seite von Lili gezeigt, als Julien, der einen Text namens „Die Kassiererin bei Shopi“ schreiben möchte. Mehrperspektivisch, wobei der Wechsel innerhalb von Sätzen oder Absätzen erfolgt, und auf mehreren Ebenen (Aus der Sicht der Eltern, aus der Sicht von Lili, aus der Sicht von Julien, der Olivier Adam selbst sein könnte, der über Lili schreiben möchte, wird die Geschichte erzählt) wirkt die Sprache sparsam. Julien, der Journalist und Schriftsteller, der seit Ewigkeiten an ein- und demselben Manuskript arbeitet, beschreibt seinen Stil als voll mit „… abstrakten Sätze(n), [den] unterkühlte[n]m Stil mit den seltsamen metallischen Worten“ - eine Bewertung, die auch auf den Roman selbst sehr zutreffend ist. Lili selbst beschreibt unemotional, in Satzfetzen, die sich aneinanderreihen; sie beschreibt Handlungen, Taten, keine Emotionen. Sie ist ein nicht-fühlendes Individuum, sucht aber Gefühle in anderen Menschen, auch in Julien, der am Ende die Wahrheit über Loїc offenbart.


    Fazit:


    Ein melancholischer Roman mit einem abstrakten, sparsamen, emotionalen Sprachstil. Die Perspektive wechselt innerhalb von Sätzen, innerhalb von Absätzen, was zu Verwirrung führen kann und auch dazu, dass man keine richtige Innensicht von der jeweiligen Person, außer von Lili bekommt. Sie wirken dann wie Schablonen, wie Anhängsel, die gebraucht werden um ihre Figur zu beleuchten, führen aber kaum ein eigenständiges Dasein in diesem Roman. Die Geschichte selbst baut sich langsam, aber sehr logisch auf und findet ein trauriges Ende. Eine schöne Lektüre, wenn auch der Stil mit Anakoluthen und Akkumulationen eine Geschmacksfrage ist.