Luc Jochimsen - Dieses Jahr in Jerusalem: Theodor Herzl. Traum und Wirklichkeit

Es gibt 5 Antworten in diesem Thema, welches 2.782 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Die Lidscha.

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    Ich möchte nun direkt, nachdem ich das Buch zugeschlagen habe, etwas dazu schreiben. Denn die Geschichte des „Erfinders“ des Judenstaates hat mich einfach erschlagen. Einfach nur mitgenommen, in jedem Sinne des Wortes. Ich bin platt.
    Der Reihe nach. Luc Jochimsen, u.a. Grimme-Preisträgerin und (Chef-)Redakteurin bei der ARD und später beim NDR, legte 2004 diese Biographie des „Journalisten, Geschichtenerzählers, Feuilletonisten, Reporters, politischen Korrespondenten“ und „Visionärs“ Theodor Herzl vor (herausgegeben von Michel Friedman). Dabei geht sie sein Leben von der Kindheit in Pest bis zu seinem Ende als kranker, abgewirtschafteter Mann im Alter von 44 Jahren im Kontext der Geschichte durch.
    Der 1860 geborene Theodor Herzl ist eigentlich kein orthodoxer Jude, doch früh kommt er mit Antisemitismus in Ungarn in Berührung. Nach dem Tod seiner geliebten Schwester geht die Familie nach Wien. Hier wird er Jura studieren und alle Abschlüsse mit Bravour meistern, was ihm allerdings nichts bringt, da er als Jude nicht in höhere öffentliche Ämter darf. Er beginnt Lustspiele zu schreiben, die aber in der Szene keine Anerkennung finden. In den Literaturgesellschaften, in denen er verkehrt, werden immer mehr anti-jüdische Stimmen laut. Als Reporter für die Wiener „Neue Freie Presse“ findet er schließlich eine Stellung, in der er Erfolg hat. Er geht als Korrespondent nach Paris und erlebt dort den aufkeimenden Antisemitismus mit, den er in der nach-revolutionären Republik für unmöglich gehalten hatte. Sein journalistischer Höhepunkt wird die Dreyfuß-Affäre. Das Urteil gegen den nachweisbar unschuldigen jüdischen Offizier (er war des Geheimnisverrats angeklagt worden, worauf die Todesstrafe stand) veranlasst ihn schließlich, sich Gedanken um die „Judenfrage“ zu machen. Von nun an ist er besessen von der Idee, einen eigenen Judenstaat zu erschaffen, in dem nicht der Klerus oder das Militär Einfluss in die Politik haben, sondern alle im Land lebenden Menschen. Die Krux an der Sache ist natürlich, dass man für einen Staat ein Land, ein Stück Boden braucht. Nachdem die Idee ausformuliert und auf den beginnenden Zionistenkongressen angenommen und umjubelt wurde, beginnt für Herzl die Suche nach Helfern, nach Verbündeten. Und damit eine Reise um die halbe Welt, bei der er auf alle einflussreichen Menschen der Zeit trifft, auf Kaiser Wilhelm II., auf den Sultan der Türkei (Palästina war damals unter türkischer Herrschaft), auf die Politprominenz von Russland und England, sogar auf den Papst Pius X. Alle scheinen von der Idee begeistert, den Juden einen eigenen Staat zu geben (und sie damit aus Europa herauszubekommen), aber eine finale Zusage, die alles entscheidende Hilfe bekommt er nie. Und so stirbt er 1904 an Herzproblemen, ohne seine Vision verwirklicht zu sehen. Er konnte wohl noch nicht einmal ahnen, welche langfristigen Auswirkungen seine Ideen haben würden.
    Was die Erzählung so spannend und atemberaubend macht, ist die Dichte der Ereignisse im Leben dieses Einzelkämpfers (er hatte viele Befürworter, aber am Ende hat er doch an allen Ecken gegen Windmühlen gekämpft) – kein Wunder, dass das Herz recht früh versagte. Herzl führte sein ganzes Leben lang Tagebuch und Jochimsen strickt geschickt Passagen in ihre Erzählung ein. Außerdem stellt sie nicht nur den Traum Herzls dar, sondern betrachtet auch die Wirklichkeit – was ist daraus geworden, und was hätte Herzl zur heutigen Situation gesagt? War es das, was er wollte?
    An sich ist es ja eine wahnsinnige Idee, einen Staat auf dem Papier zu entwerfen, die Regierungsform festzulegen, eine Wirtschaftsordnung zu kreieren, sich um die Infrastruktur zu kümmern, im Prinzip eine komplette Verfassung zu schreiben, ohne zu wissen, wo so etwas stattfinden sollte. Denn Herzl dachte an ein menschenleeres Land – und diese Leere gab es einfach nicht mehr. Das ist wohl die Tragödie an seinem Entwurf. Wir wissen, wozu es geführt hat.


    Ich habe die Biographie als Einstimmung auf meine Examensarbeit gelesen, weil ich einfach erst mal ein wenig wissen will, was da eigentlich historisch passiert ist. Natürlich bieten die knapp 230 Seiten keine umfassende biographische, historische und politische Gesamtdarstellung der Problematik, aber es ist ein sehr gut lesbarer, wahnsinnig schneller und spannender Abriss des Lebens eines Mannes, der sich selbst für seine Ideen geopfert hat. Dass 1948 der Staat Israel unter seinem Porträt proklamiert wurde, wer weiß, ob Herzl sich in dieser Rolle wohl gefühlt hätte. Denn wie Jochimsen abschließend feststellt: Auch wenn es ein fataler Irrtum war, vom menschenleeren Raum für die Gründung des Judenstaates zu sprechen, so hat der Visionär Herzl doch immer gesagt, dass er es nie zulassen würde, anstelle der Juden ein anderes Volk leiden zu lassen.


    Fünf Ratten und eine klare Empfehlung für eine spannende Lebensgeschichte an sich und eine richtig gute Umsetzung durch Frau Jochimsen.


    5ratten


    Grüße!

  • Lieben Dank für diese tolle Rezension, Lidscha! :klatschen:


    Das Buch ist somit umgehend auf meinem Buchkaufzettel gelandet... Da ich von Theodor Herzl erst kürzlich zwei Bücher gekauft habe ("Der Judenstaat" und "AltNeuLand - Ein utopischer Roman") - kennst Du diese auch? Und werden sie in dem von Dir vorgestellten Buch ebenfalls erwähnt? Ich überlege nämlich gerade, in welcher Reihenfolge ich die Bücher dann lesen sollte.


    Liebe Grüße
    dubh

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Hallo dubh,


    ja, beide Bücher kommen in der Biographie vor. "Der Judenstaat" wird natürlich ausführlich (naja, nicht wissenschaftlich ausführlich) behandelt, denn dieses Buch ist ja der Ausgangspunkt seiner ganzen Arbeit in den letzten Jahren. Auch "Altneuland" ist ein ganzes Kapitel gewidmet. Vielleicht solltest du erst die Biographie lesen und dann den Judenstaat und abschließend Altneuland?! Soweit wie ich das verstanden habe, ist "Altneuland" eine Art Rückblick auf das, was er in "Judenstaat" entworfen hat - er fährt mit einer fiktiven Figur 1923 (oder 1924, bin mir nicht ganz sicher) nach Palästina und beschreibt, was er dort vorfindet. "Der Judenstaat" ist dagegen ja "nur" der Entwurf der Sache.
    Wobei ich ja gestehen muss, dass mich die Biographie auch deswegen so mitgerissen hat, weil es mir gezeigt hat, wie "aktuell" das Zeitgeschehen damals war. Ich kann das schwer beschreiben, aber wenn ich von jemandem lese, der 1860 geboren wurde, dann denke ich immer, dass das ja eeeewwwig her sei und ich garantiert nichts damit anfangen kann. Aber die Darstellung hat mir gezeigt, dass es schon vor 100 Jahren Themen gab, die an Brisanz nichts verloren haben.


    Ich werde mir auf jeden Fall auch "Der Judenstaat" besorgen. Es waren ein paar Zitate im Buch und ich empfand es gar nicht als so schwer verständlich. Theodor Herzl war ja ein sehr erfolgreicher Journalist, und auch einige seiner Texte sin abgedruckt, und auch die sind überwiegend sehr gut lesbar.


    Würde mich dann über eine Meinung über die beiden anderen Werke freuen.


    Grüße! :smile:

  • Eine tolle, neugierig machende Rezension! Damit ist dieses Buch ist sofort auf meine LdimnDUaB (Liste der in meinem nächsten DeutschlandUrlaub anzuschaffender Bücher) gelandet.
    Ich sehe für den Herbst schon eine Sachbuchleserunde vor mir. Nicht wahr Dubh, Tina, Wolves :zwinker: ?

    Wir sind irre, also lesen wir!


  • Ich sehe für den Herbst schon eine Sachbuchleserunde vor mir. Nicht wahr Dubh, Tina, Wolves :zwinker: ?


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    Und wenn Ihr danach (vielleicht auch Die Lidscha, immerhin auch schuld an der Leselawine) noch


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    Theodor Herzl, Der Judenstaat (gibt es in einigen Ausgaben)
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    ebenfalls Herzl, AltNeuLand


    mit mir lest, dann warte ich erstens mal wirklich gerne bis Herbst und zweitens freue ich mich dann auch noch riesig. e025.gif


    Na, was meint Ihr?


    Liebe Grüße
    dubh

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Hallo!


    Besser spät als nie: Ich wäre für eine Leserunde zu "Der Judenstaat" offen. Sagt einfach Bescheid.


    Grüße!