Carlos Fuentes - Die gläserne Grenze

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  • Hallo!


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    Inhalt:


    Bewegend erzählt Carlos Fuentes von Menschen, die zu 'Grenzgängern' werden zwischen Mexiko und den USA. Getrieben von ihrer Sehnsucht, ein kleines Stück Unabhängigkeit zu erringen, von ihren Träumen oder einfach nur von dem Wunsch, ihre materielle Existenz zu sichern, suchen sie alle nach Erfolg, Freiheit und Glück und zahlen oft einen hohen Preis: den der Vereinzelung und kulturellen Entwurzelung.


    Teilnehmer:


    rkmex
    nikki
    Saltanah


    Eine kurze Bitte: Damit das ein bisschen angenehmer zu lesen ist, postet erst, wenn ihr angefangen habt. Die Beiträge "Buch liegt bereit, ich fange heute Abend an" ziehen das ganze immer so sehr in die Länge.


    Interessant für Leserunden-Neulinge ist sicherlich die Leserunden-FAQ. Dort findet ihr auch Informationen z.B. zu Spoilern etc.


    Viel Spaß!

    [size=9px]&quot;I can believe anything, provided that it is quite incredible.&quot;<br />~&quot;The picture of Dorian Gray&quot;by Oscar Wilde~<br /><br />:leserin: <br />Henry Fielding - Tom Jones<br /><br />Tad Williams - The Dragonbone Chair<br /><br />Mark Twai

  • Der Untertitel des Werks lautet - zumindest in der spanischsprachigen Ausgabe - ein Roman in neun Erzählungen.
    Die erste dieser Erzählungen habe ich nun hinter mir, Carlos Fuentes steigt gleich mit wuchtiger, stellenweise sogar anzüglicher Sprache ein. Im Kopf bilden sich spontan sehr plastische Bilder, was natürlich durch die Tatsache unterstützt wurde, dass ich dieses Kapitel am Samstagnachmittag auf einer Bank im Alameda-Park von Mexiko-Stadt genossen habe. Vieles, sei es die Tendenz der Oberschicht, sich massiv von der restlichen Bevölkerung abzuschotten oder der ständige Konflikt zwischen Tradition und Moderne, erlebe ich hier jeden Tag auf`s Neue. Auch die enger fixierten Geschlechterrollen haben ihre Entsprechung im Alltag. Junge Frauen wie Michelina sehe ich hier täglich, auch wenn die klassischen Schönheiten selten geworden sind. Soziale Probleme und die schleichende Amerikanisierung der Gesellschaft fordern ihren Tribut.
    Das erste Kapitel in seiner Widersprüchlichkeit ist ein gelungener Einstieg in das Buch, der Lust auf mehr macht.
    pchallo

  • Hallo ihr zwei :winken:
    Auch ich habe gestern die erste Erzählung gelesen. So weit ich das auf die Schnelle überblicken kann, ist dies mein erstes mexikanisches Buch überhaupt, und entsprechend gespannt bin ich darauf.
    Auch meine englische Ausgabe The Crystal Frontier hat den Untertitel "A Novel in Nine Stories". Die erste Geschichte "A Capital Girl" (wie heißt die auf deutsch? Ein Mädchen aus der Hauptstadt vielleicht?) hat mir im Großen und Ganzen gut gefallen, auch wenn sie bei mir einige Fragen offen lässt. Gerade die Erzählweise mit den vielen "Löchern" in der Handlung, die man selbst ausfüllen muss und die Art, wie Fuentes mitten in seiner Darstellung ungekennzeichnete wörtliche Rede unterbringt, die die Handlung kommentiert, sagt mir sehr zu. Beides erfordert aber auch große Aufmerksamkeit beim Lesen und ein Zwischen-den-Zeilen-lesen, was mich bedauern lässt, dass ich nicht die deutsche (oder wenigstens eine - leider nicht existierende - schwedische) Übersetzung in den Fingern habe. Ich habe nämlich den Verdacht, dass mir auf englisch Details entgehen, die wichtig sein können.


    Die Abschottung der Oberschicht in eigenen mauerumgebenen und bewachten "Reservat" hat mich nicht so sehr überrascht, obwohl ich so etwas live noch nie gesehen habe. Ich kenne dieses Phänomen allerdings aus US-amerikanischen Romanen. Schön, dass es hierzulande so etwas nicht gibt.


    Was meint ihr, ist im 3. Kapitel zwischen Michelina und Mariano vorgefallen? Das wurde mir nicht wirklich klar. Manrianos Bericht
    I swear, Dad, I didn't want to take advantage of her, I only asked for the things she was giving me, a touch of pity in her arms, with a kiss - what could a kiss mean to her? You give me kisses, Dad, I don't scare you, do I?
    deutet eine unerwünschte "Anmache" an (wie weit ging die?), über die, oder über deren Zurückweisung Mariano sich hinterher schämt. Der Vater scheint ja zu hoffen, dass es zum Geschlechtsverkehr gekommen ist: You screwed her, right? Tell me you did. Hofft er, dass sein einzelgängerischer, sonderbarer Sohn sich dadurch doch als "normal" erweist?
    Und wie seht ihr den letzten Absatz der Erzählung? Leonardo und Michelina hören auf dem Weg nach Norden ein Lied "I need you, need you a lot, I don't know you... , dann zoomt die Geschichte auf Mariano ein, der read books and listened to music and went into ecstasy guessing wich birds were singing at four o'clock in the morning. That morning, a jet crossed the heavens, and the birds fell silent for ever. She was no longer there...
    Wunderschön geschrieben, beim Lesen überläuft es mich kalt, aber was bedeutet es? Hat Mariano doch Gefühle für Michelina? An einer früheren Stelle heißt es ungefähr (ich finde die Stelle leider nicht), dass wohl keine Frau in sein Wunschleben passen würde, und er erschien mir eher desinteressiert an Frauen, aber der letzte Absatz scheint ja zu sagen, dass er doch Michelina, die mit seinem Vater ein Verhältnis hat, hinterhertrauert und dass seine Lebensfreude durch ihren Verlust einen gehörigen Schock bekommt.


    Fazit: Eine schön erzählte, dichte Geschichte, die ich eigentlich zwecks besserem Verständnis gleich noch einmal lesen müsste.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Aufgrund der Zeitverschiebung komme ich nun erst zum Tageskommentar, das wird sich hier so durchziehen, und im Anschluss wage ich mich dann an Abschnitt zwei.
    Was den Titel der ersten Erzährung angeht, sollte man vielleicht vom spanischsprachigen Original ausgehen. Da heisst es "La capitalina". Capitalino/-a - je nach Geschlecht wird hier in Mexiko zur Beschreibung von Vorgängen und Einrichtungen in der Hauptstadt benutzt, "hauptstädtisch" wäre wohl die treffendste Übersetzung. Vielfach ist ein leicht despektierlicher Unterton mit dabei, denn gerade auf dem Land gelten die Hauptstädter gerne als etwas eigen. Ich denke, dieser Unterton ist vom Autor definitiv gewünscht...
    Was die Vorgänge im dritten Kapitel angeht, bringt ja vor allem Kapitel sechs zusätzlich Aufklärung. Mariano leidet ganz offenbar an einer sehr ausgeprägen Hasenscharte, was dann auch erklärt, warum er so gerne im Dunkeln ist. Der Hasentraum ist so als Albtraum zu verstehen. Die Schönheit aus der Stadt und der mißgestaltete Junge vom Lande, ein sehr seltsames Paar, und die Blicke der anderen in der machen Mariano zusätzlich zu schaffen, gerade weil ihn Michelina so ausgesucht höflich behandelt. Er scheint zu glauben, dass er nur als Witzfigur wahrgenommen wird, deswegen scheitert er auch bei dem Versuch, sie zu küssen, er entgeht der Situation schließlich Alkohol und Flucht.
    Was den Schluss angeht: Ich denke, Michelina kehrt unter Nutzung des Privatjets wieder in die Hauptstadt zurück, was natürlich besonders für Mariano eine Demütigung darstellt. Michelina wird ja auch mehrmals als Drossel beschreiben, im Spanischen "tordo", was als Adjektiv literarisch auch unsicher/unbeholfen heißen kann.
    Natürlich hat Mariano Gefühle für Michelina, aber er weiss, dass sie unerreichbar weit weg ist, da er für sie uninteressant ist und auch der Vater als dominantes Hindernis im Weg steht.
    Ich habe den ersten Teil nochmal auf Spanisch gelesen, da gab es gleich mehrere Aha-Erlebnisse, auch weil viele Bilder noch besser passten.
    Derart werde ich auch weiter verfahren, d.h. ein Durchgang deutsch, ein zweiter im Original. Vielleicht gewöhne ich mich ja schnell genug an das Vokabular, um das Original vorziehen zu können bzw. ausschließlich zu nutzen.
    Heute abend dann Teil zwei, und Kommentare dazu morgen.
    P.S.: Nikki wird dann - wie angekündigt - hoffentlich am Montag mit einsteigen können!

  • Eine Hasenscharte! Ja natürlich, das ist die Erklärung für diesen sonderbaren Satz "In seinem Mund wohnte ein Hase". Das erklärt einiges, was mir bisher unverständlich war.
    Ich beneide dich darum, dass du das Buch auch auf spanisch lesen kannst und so noch einige bei der Übersetzung notgedrungen verlorengehende Nuancen mitbekommst.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Hallo rxmex, hallo Saltanah!


    Ich habe nun auch die erste Erzählung gelesen. Die deutsche Übersetzung trägt den einfachen Untertitel Roman, und die erste Erzählung heisst "Die Hauptstädterin".


    Durch die sehr dichte, verwobene Sprache erfordert das Buch viel Aufmerksamkeit beim Lesen, was aber wiederum durch recht plastische Bilder belohnt wird (auch wenn man nicht im Alameda-Park sitzt, wofür ich Dich rkmex extrem beneide).


    Bereits auf der ersten Seite spielt Fuentes ein bisschen auf die "mexikanische" Beziehung zum Tod an; wo ein französischer Verehrer zu Michelina meint, sie habe ein vollkommen für den Tod geschaffenes Gesicht. Ihr gefällt dies zwar nicht, wird von Fuentes aber einfach so im Raum gelassen. Oder interpriere ich da etwas zu viel hinein?


    Die Willkommensfeier für Michelina konnte ich mir sehr gut vorstellen. All diese "emanzipierten" (ich stelle dies mal unter Anführungszeichen, da sie ihre Emanzipation darauf zurückzuführen scheinen, ihre Männer nach Lust und Laune betrügen und beraben zu können, ach wie unabhängig), reichen und betrunkenen Frauen, die in einer vollkommen isolierten Welt leben und ständig darauf achten, sich von Leuten "niedrigen" Standes abzugrenzen und eigentlich nie wirklich glücklich werden, da es immer jemanden geben wird, der mehr Geld und Macht besitzt hat Fuentes sehr gut beschrieben.


    Was mir noch aufgefallen ist, ist die oftmalige Erwähnung des Katholizismus und der Kirche. Ist das eine Anspielung auf den starken Stellenwert der Religion in Mexiko? Ohne pauschalisieren zu wollen, muss ich sagen, dass ich selten so viele gläubige Menschen gesehen habe wie in Mexiko. Vielleicht ist es mir auch nur dadurch aufgefallen, da wir viele Kirchen besucht haben, was ich in Österreich weniger tue. Aber trotzdem ... all die Rosenkränze in Autobussen oder Taxis, die Schwarze Madonna von Guadalupe. Der öffentliche Raum war irgendwie religiöser.


    Die Erzählung hat mir gut gefallen, ich glaube ich werde sie mir auch noch einmal zu Gemüte führen. Das mit der Hasenscharte ist mir nämlich auch nicht sofort klargewesen. :rollen:


    Ich wünsche dir Saltanah noch einen schönen Abend, und dir rkmex einen schönen Tag!


    Lg
    nikki

    Ich lese gerade:<br />Lion Feuchtwanger - Der jüdische Krieg

  • Die zweite Erzählung ist absolviert, und ich bin schwer beeindruckt.
    Carlos Fuentes legt also 'mal eben den Schalter um und setzt in einem deutlich veränderten Schreibstil fort. Als ob plötzlich ein anderer Autor am Werke wäre. Das Kapitel selbst ist sehr deutlich vom mexikanisch-us-amerikanischen Antagonismus geprägt, und von gegenseitigen Missverständnissen. Die mexikanische Idee von Stolz, Selbstbehauptung und Ehre wird ungemein elegant vermittelt, was ich hier in den letzten Wochen beobachtet hatte, mir fehlten die passenden Worte, Carlo s Fuentes hat sie mir gegeben. Der Dualismus von Schmerz und Scham, pena y vergüenza, das trifft das Lebensgefühl der Menschen. Mich würde übrigens interessieren, wie in der englischen Übersetzung die Stelle wiedergegeben ist, an der Jim bittet:"Erklär mir, ob Schmerz und Scham, wie du sie nennst, so etwas wie pityund shameim Englischen sind. In der gesamten Erzählung wird mehrmals deutlich, dass die Übersetzung nur schwer zu bewerkstelligen war, leider wirkt manches etwas schief, z.B. der Ausruf Juans, "Mein armer, armer Alter" was im Original eben deutlich respektvoller mit jefe wiedergegeben ist. An mehreren Ortsangaben erkennt man, dass sich der Übersetzer wohl nur unzureichend mit Mexiko-Stadt auseinandergesetzt hat.


    Gelebte Homosexualität ist in Mexiko immer noch ein großes Tabuthema, vielfach ein gesellschaftliches Todesurteil. Die positive Schilderung Juans wird daher hierzulande mit Sicherheit für einige Irritationen gesorgt haben und auch als Provokation gewertet worden sein. Die Darstellung des Bruchs finde ich ganz besonders gelungen. Nur mit dem Ergebnis konfrontiert, kann sich der Leser zunächst selbst seine Gedanken machen, ehe ihn der Autor mit der harten Realität konfrontiert. Überzeugend gelöst.


    Als Fixpunkte bleiben zwei Erkenntnisse: Es darf geträumt werden, und bei Leonardo Barroso laufen die Fäden zusammen. Es bleibt spannend, und ich bleibe neugierig....

  • Auf englisch heißt es an der Stelle: "Explain to me 'pain and shame', as you call them - which would be something like 'pity and shame' in English", said the American. Und Juan sagt über seinen Vater: My dad. My poor, poor dad.
    Ich habe vor, die Geschichte heute abend noch einmal zu lesen und dann mehr zu ihr zu schreiben.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Hallo!


    Mir hat die zweite Erzählung viel besser gefallen als die erste. Sie war leichter zu lesen und dadurch auch greifbarer, obwohl Fuentes wiederum sehr dicht schreibt. Auf knapp 30 Seiten schafft er es, uns das Weltbild zweier Gesellschaften ohne Kitsch vorzustellen.


    Ich habe aber trotzdem eine Frage. Schämt sich Juan der Anständigkeit seines Vaters? Warum erfindet er die Geschichte vom Reichtum? Ist ihm die Heuchelei und die Hinterlistigkeit eines Wingates lieber, als die Standfestigkeit und Ehrlichkeit seines Vaters? Oder erfindet er das alles nur deshalb, um seinen Gastgebern und im weiteren Sinne auch der nordamerikanischen Gesellschaft zu gefallen? Deutet Fuentes hier auf verschiedene Ansichten von Werten und Moral in diesen zwei Gesellschaften? Was sagt ihr?


    lg
    nikki

    Ich lese gerade:<br />Lion Feuchtwanger - Der jüdische Krieg

  • Der Punkt der "Schande" der Herkunft ist aus meiner Sicht der Dreh- und Angelpunkt der Erzählung und gleichzeitig das klassische mexikanische Dilemma. Die große Mehrheit der Bevölkerung möchte gleichzeitig moralisch handeln und zu Wohlstand kommen, eine Kombination, die in der Gegenwart des Landes praktisch unmöglich ist.
    Den Leuten geht es aber häufig besser, wenn sie sich wenigstens einreden können, dass es Ihnen so schlecht nicht geht, das merkt man auch im Alltag. Übertreibungen sind allgegenwärtig und sind meistens gar nicht so gemeint, dagegen werden Probleme fast immer verniedlicht, und ich habe noch nie einen Mexikaner erlebt, der sich hier frontal negativ geäußert hätte.
    Juan ist eben auch gefangen in diesem Zwiespalt, aber letztlich entscheidet er sich für die moralisch einwandfreie Position. Das ganze ist natürlich auch eine Botschaft Fuentes' an seine mexikanischen Landsleute, denn er macht durch die positive Dartellung ja klar, dass auch Homosexuelle eine einwandfreie Geisteshaltung haben können, eine Meinung, die in Mexiko erst noch weite Verbreitung finden muss.
    Immerhin bleibt ja weitgehend offen, ob Juan nach seiner Rückkehr seine Neigung weiter auslebt, so dass ja noch ein Schlupfloch bleibt.... :zwinker:
    rkmex

  • So, ich habe nun die dritte Erzählung gelesen.


    Das war eine kleine kulinarische Reise durch Mexiko, sodass ich mir zu Mittagessen gleich eine mexikanische Maissuppe und eine peruanische Pfefferpfanne machen musste. Mmhh...


    @rkmex, schon mal Chicherron in Avocadosauce gekostet? Ich bin noch immer traumatisiert davon.


    In dieser Erzählung geht es um Überflus, die Konsum- und Wegwerfgesellschaft, welche durch die USA verkörpert wird. Mexiko wird als ein traditionsreiches und geschichtsreiches, durch aristokratische Kultur geprägtes Land, welches durch den Reichtum des großen Nachbarn geblendet und in seinen Bann gezogen ist, dargestellt. Also wiederum Moderne vs. Tradition?
    So kann ich mir auch Dionisios Verhalten erklären: er füllt ein ganzes Lager voll mit unnötigen Produkten, die er am Schluss alle wegwirft, um nackt in sein Land zurückzukehren, welches nichts hat, nämlich Mexiko.
    Das mit den Frauen habe ich nicht wirklich verstanden.


    Lg
    nikki

    Ich lese gerade:<br />Lion Feuchtwanger - Der jüdische Krieg

  • Hi!
    Eine kulinarische Reise der Gegensätze, und auch wieder typisch für den Kampf, den die Mexikaner auszufechten haben. Auch die Gastronomie ist ja mehr und mehr amerikanisiert. Dionisio wird als ziemlich komplexbeladener Kerl dargestellt, der auch seine Sehnsüchte hat. Es wird aus meiner Sicht nun deutlicher ein Leitmotiv sichtbar. Mexikaner mit den verschiedensten Biorgraphien überschreiten die Grenze - sowohl tatsächlich als auch im übertragenen Sinne - in die USA, sie hängen ihren Träumen nach, besonders auch ihren sexuellen Wünschen. Jede Geschichte ist auch eine Geschichte des Scheiterns, mal mehr im materiellen, mal eher im moralischen Sinne.
    Fuentes kritisiert die Oberflächlichkeit der US-Amerikaner, verkennt aber aus meiner Sicht, dass auch seine mexikanischen Landsleute nicht immer wirklich tiefschürfend agieren, die Dienstleistungsmentalität sorgt schon für sehr viele Platitüden.
    Das Verhältnis zu Frauen ist für mexikanische Männer ein ganz besonders empfindlicher Punkt. Mehr noch als in Europa gehen viele Männer hier automatisch davon aus, dass Frauen sich für sie zu interessieren haben, und natürlich gibt es ein klar definiertes Schönheitsideal.
    Dionisios Frauenproblem ist aus meiner Sicht ein sehr komplexes Bild, möglicherweise der Versuch, sich mit einer völlig absurden Auswahl vom Mainstream zu emanzipieren, wie er es ja auch als Koch versucht. Andererseits ist es auch untypisch, dass es sich in so einer elementaren Frage auf eine Zufallsentscheidung verlässt. Vielleicht gebe ich das Kapitel morgen unserem Fahrer und bitte ihn um seine Meinung.
    Im Übrigen finde ich es von Carlos Fuentes reichlich eitel, dass er sich von Dionisio als einen von zwei Mexikanern bezeichnen lässt, der vernünftig Englisch kann...


    nikki: Chicharrón hatte ich bislang noch nicht, aber heute abend bin ich zum Essen verabredet, mal sehen, was die Karte hergibt....

  • Hallo!


    Ich habe soeben die vierte Erzählung gelesen. Es ist ein politisches Essay, und ich muss es ein wenig verdauen, bevor ich etwas dazu schreibe. Aber das Leitmotiv - wie du rkmex es auch siehst - wird durch diese Erzählung noch einmal bestätigt.



    Im Übrigen finde ich es von Carlos Fuentes reichlich eitel, dass er sich von Dionisio als einen von zwei Mexikanern bezeichnen lässt, der vernünftig Englisch kann...


    Ja, das ist mir auch aufgefallen. Ich fand die Aussage aber eher zynisch bzw. satirisch, als ob er sich selbst aufs Korn nehmen will.


    Und zu den Frauen habe ich eine interessante Interviewpassage gefunden, wo Fuentes meint:
    "Die Männer in Mexiko können manchmal brutale Machos oder Don Juans sein, aber die Frauen sind das Rückgrat der Gesellschaft. Früher hatten sie eine Art moralischer Hoheit, aber heute, darüber bin ich froh, ist es ihre Unabhängigkeit, die sie stark macht. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt, nehmen am Business, in der Politik und der Kunst teil. Natürlich spreche ich hier von der Ober- und Mittelklasse und nicht von der Landesbevölkerung. ABer fast 60 Prozent der Mexikaner leben heute in Städten, und der Anteill der Frauen in führenden Positionen der Gesellschaft ist ernorm gewachsen. Für mich ist das einer der wichtigsten Schritte in Richtung wahrer Demokratie. Okay, wir haben noch keine Präsidentin, aber das haben ja noch nicht mal die USA."


    Die spitzen Bemerkungen gegenüber der USA kann er nicht lassen....


    Das männliche Ideal ist noch immer der eines Machos oder Don Juans, das Bild der Frau hat sich aber gewandelt, und dadurch auch die zwischengeschlechtlichen Beziehungen. Vielleicht tun sich deshalb all die männlichen Figuren in seinen Erzählungen mit den Frauen so schwer. :confused:


    @rkmex also wenn du auf gekochte Schweineschwarte stehst, noch dazu in einer grünen Sauce - na dann wünsche ich dir guten Appetit! :breitgrins:
    Saltanah hast du uns verlassen? pchallo


    Lg
    nikki

    Ich lese gerade:<br />Lion Feuchtwanger - Der jüdische Krieg

    Einmal editiert, zuletzt von nikki ()

  • Hallo ihr zwei :winken: ,
    ich bin auch noch da, lese auch langsam aber sicher weiter, habe aber nicht weiter kommentiert, weil ich eigentlich vorhatte, die Geschichten ein zweites Mal zu lesen. Das verdienen sie wirklich, nur komme ich einfach nicht dazu - daher jetzt meine Meinung nach nur ein mal lesen:


    II: Pain
    Wow, welch ein Stil! Einzelne Formulierungen haben mir richtiggehend den Atem geraubt., z. B. ziemlich am Anfang It is true that he touched a world and that the world touched him oder das wunderbare letzte Kapitel: Juan Zamora, that's right. He asked that I tell you all this. He feels pain, he feels shame, but he has compassion. He's turned his face towards us.
    Ein melancholisches, aber doch hoffnungsvolles Ende. Juan steht dazu, was er ist. Sowohl zu der Ehrlichkeit seines Vaters, die jetzt wohl seine eigene geworden ist. als auch zu seiner Homosexualität. Oder so deute ich zumindest das Ende.
    Ich muss gestehen, dass ich viel für schwule Liebesgeschichten übrig habe. Dort kann ich meine romantische Ader ausleben, ohne mich über das meist vorhandene Ungleichgewicht zwischen den Partnern zu Ungunsten der Frau, klischeehafte Beschreibungen der "Weiblichkeit", ebenso klischeehafte Beschreibungen eines "richtigen Mannes" oder ähnliches aufzuregen. Der lateinamerikanische Machismo, der wohl nicht nur Mythos sondern auch Wirklichkeit ist, wird vermutlich meinen Blutdruck bei der Lektüre dieses Buches noch einige Male steigen lassen, aber wenigstens in dieser Geschichte blieb ich davon verschont.


    Gleich muss ich zur Arbeit; meine Meinung zur dritten Geschichte dann morgen, und mit etwas Glück auch zur vierten, an der ich gerade lese.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Hi Ihr 2,
    ich habe die vierte Erzählung mittlerweile dreifach durch, das bisher anstrengendste Stück des Gesamtwerkes.
    Ohne Absätze, ausschließlich als Monolog gehalten, erfordern diese 25 Seiten extreme Konzentration vom Leser.
    Die Kulisse ist sehr minimalistisch, der alte Mann, gefesselt an seinen Rollstuhl - oder besser und bildlich - an sein Schicksal, starrt auf die Linie, die sein Leben geprägt hat, die Linie, die für ihn so viel bedeutet hat. Emiliano hat sie nie überschritten, aber dieser Sieg für ihn ist in materieller Sicht eine vernichtende Niederlage. Obwohl er Rückgrat bewiesen hat, erscheint er als gebrochener Mann. Die Abrechnung mit seiner Geschichte wird für ihn zur Befreiuung. Ich begreife diese Schilderung als großartige Parabel auf die mexikanische Gesellschaft, vorgetragen von einem politisch engagierten Autor als Anwalt für die Armen und Aufrechten.
    Mexiko als Land der Widersprüche - wenn es jemals einen Sammelband zu diesem Thema geben sollte, "Die Linie des Vergessens" gehört hinein.


    Interessant übrigens, dass diese Erzählung Jorge Castaneda gewidmet ist. Ein ehemals Ultralinker Historiker, der im Laufe seiner Biographie aber einige Häutungen mitgemacht hat. Nach Erscheinen der "gläsernen Grenze" ist er als Berater der konservativen PAN in Erscheinung getreten und war unter Regierung Fox von 2000-2003 Außenminister. Ich muss noch mal recherchieren, wie Carlos Fuentes darauf reagiert hat...
    :daumen: rkmex

  • Hi.....
    Die fünfte Erzählung ist erledigt, und die hat sich erst nach und nach in ihrer vollen Wucht entfaltet. Die ersten paar Seiten habe ich gedacht, hey, wen interessiert eigentlich dieser Zickenkrieg, und ich war auch schon dabei zu bemängeln, dass die Klammer rund um die einzelnen Teile fehlt, als plötzlich Leonardo Barroso auf die Bühne kommt, ohne jede Vorwarnung. Dessen Sichtweisen und Probleme haben nichts mit den echten Sorgen und Nöten seiner Belegschaft zu tun, auch wenn diese sich nur wenige Meter entfernt abspielen.
    Die weitere, dramatische Entwicklung bis zum Kapitelende halte ich persönlich für etwas dick aufgetragen, das sehr unbarmherzige Schicksal nimmt der Geschichte viel von ihrer Subtilität. Der ganze Wechsel zwischen Licht und Schatten, oben und unten, schön und häßlich, hätte sehr gut auch ohne den Tod des Kindes aufgezeigt werden können. Wäre die Erzählung mehr in der Alltäglichkeit verbleiben, sie gewänne aus meiner Sicht an Aussagekraft.
    Die letzten Abschnitte hingegen zeichnen wieder ein wunderbar gelungenes Bild von Lebensläufen, die sich in nächster Nähe entwickeln, ohne sich jedoch wirklich zu berühren.
    :fluester: psst...Kommentare willkommen.

  • Hallo!


    Das Wochendwetter war bei uns so unglaublich schön, sodass die Berge regelrecht nach mir geschrieen haben. Meine Bücher haben das Wochende dementsprechend schmollend und einsam in einer Ecke verbracht. Ich habe kein einziges Wort gelesen, dafür aber jetzt!


    Erzählung Nr. 4
    Ich habe zuerst gedacht, dass dieser alte, unbewegliche Mann die Personifizierung Mexikos selbst ist, die einen inneren Monolog führt und über Sinn und Sinnlosigkeit von Grenzen und deren Implikationen nachdenkt. Dann habe ich den Gedanken verworfen. Es hat sich herausgestellt, dass es der Bruder des omnipräsenten Don Leonardo Barroso ist. Und ein alter Linker und treuer Verfechter von Ideen Lázaro Cardénas ist.
    In dieser Erzählung wird auch die starke Arbeitsmigration in die USA erwähnt; in der natürlich Don Barroso seine Finger im Spiel hat.


    Dieser Wirtschaftsaspekt prägt auch die 5. Erzählung, nur diesmal diesseits der Grenze, also in Mexiko. Ich fand es gut, wie Fuentes den Arbeitstag der vier Freundinnen darstellt; den Zickenkrieg habe ich wohl überlesen. :breitgrins:
    Und wieder war Barroso da. Ich muss sagen, dass mir dieser Mann immer mehr auf die Nerven geht. Wie er da am Fenster stand und seinen amerikanischen Geschäftspartnern vorschwärmte, wie glücklich und zufrieden seine Arbeiterinnen sind! :grmpf:
    Die Geschichte mit dem toten Kind mag überzogen sein, da hast du Recht rkmex. Ich hatte das Gefühl, dass dadurch die Lage dieser Frauen noch drastischer vor Augen geführt werden sollte. Ihre Abhängigkeit von ihren Chefs und deren Ahnungslosigkeit von ihren Lebensbedingungen. Denn Dinorah wohnt ja in der Kolonie, die Barroso billig aufkaufen und ein Industriezentrum daraus bauen will, um es teuer verkaufen zu können.
    Wie verschieden und doch so nah diese Lebenweisen doch sind (wie du rkmex es sagst), beweist wiederum die letzte Szene. Die hat den stärksten Eindruck auf mich hinterlassen.


    Im Augenblick lese ich Die Freundinnen, Erzählung Nr. 6. Es geht um Vorurteile anderen ethnischen Gruppen gegenüber. Dieser alten Miss Amy würde ich, wenn ich könnte, am liebsten eine Ohrfeige verpassen! Sie ärgert mich wirklich. :grmpf: [size=7pt]Irgendwie bin ich heute recht aggressiv[/size]
    Nun gut, ich gehe weiter lesen.


    Lg
    nikki

    Ich lese gerade:<br />Lion Feuchtwanger - Der jüdische Krieg

  • Ein sehr anstrengendes Arbeitswochenende machte es mir leider unmöglich, in diesem anspruchsvollen Buch weiter zu lesen. Aber diese Woche habe ich frei und hoffe, ein gutes Stück darin weiter zu kommen.



    Erzählung Nr. 4
    Ich habe zuerst gedacht, dass dieser alte, unbewegliche Mann die Personifizierung Mexikos selbst ist, die einen inneren Monolog führt und über Sinn und Sinnlosigkeit von Grenzen und deren Implikationen nachdenkt.


    Das ging mir genau so. Ich hatte den Bruder für die USA gehalten, aber im Laufe der Geschichte stellte sich dann zu meiner Überraschung heraus, dass der alte Mann eine "reale" (so weit eine Romanfigur real sein kann) Figur war. Dadurch, dass ich meinen ersten Deutungsversuch mitten in der Lektüre verwerfen musste, bereitete mir die Geschichte große Schwierigkeiten.
    Als der alte Mann zum ersten Mal von den Grenzgängern erzählte, hatte ich den Eindruck, dass er seine in den USA nach einem besseren Leben suchenden Landsleute kritisierte, was ja auch durch den Titel der Erzählung The Line of Oblivion erhärtet wird: die in die USA emigrierenden Mexikaner, die mit Überschreiten der Grenze ihre Wurzeln vergessen. Gegen Ende nimmt er das aber wieder zurück: What do they take, what do they bring? I don't know. What's important is that they take and bring. That they mix. Change. (...) Let them mix. Let them change. (...) crossing all the borders of the world, breaking the crystal that seperates them.
    Hier sehe ich einen großen Unterschied zu der dritten Geschichte, in der alles aus den USA kommende als minderwertig beschrieben wurde, und die mexikanische Kultur als allen andern haushoch überlegene. Diese Geschichte wendet sich gegen die alle Veränderungen ablehnenden Traditionalisten, die sich über die Jugend mit ihren neuen Ideen aufregen. Denn auch durch das Beharren auf den eigenen Traditionen und die Ablehnung von anderen Kulturen werden Grenzen geschaffen. Nicht nur die USA versuchen, sich gegen die eindringenden Lateinamerikaner abzugrenzen, auch "stolze Mexikaner" bauen Barrieren auf. Oder lese ich zuviel in diese Geschichte herein?
    Jedenfalls hat mir auch diese Geschichte mit ihrem wiederum anderen Stil gut gefallen. Fuentes kann schreiben!


    Voller Elan werde ich mich jetzt an die 5. Geschichte machen.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Hallo!



    Denn auch durch das Beharren auf den eigenen Traditionen und die Ablehnung von anderen Kulturen werden Grenzen geschaffen. Nicht nur die USA versuchen, sich gegen die eindringenden Lateinamerikaner abzugrenzen, auch "stolze Mexikaner" bauen Barrieren auf. Oder lese ich zuviel in diese Geschichte herein?


    Nein, ich glaube nicht, dass du da zuviel hinein liest. Du hast vollkommen Recht. Das Ablehnen anderer "Kulturen" und Lebensweisen schafft und verstärkt Grenzen und Aversionen gegenüber anderen. Die im Kopf entstandenen Barrieren sind extrem schwer zu überwinden (siehe Erzählung 6). Traditionen zu pflegen finde ich gut, solange man sie nicht wertend einsetzt (ich bin besser aus du) und anderen aufzusetzten versucht.


    Und Fuentes schreibt wirklich, wirklich gut...


    Lg
    nikki

    Ich lese gerade:<br />Lion Feuchtwanger - Der jüdische Krieg