Zeruya Shalev - Späte Familie

Es gibt 6 Antworten in diesem Thema, welches 2.753 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von tina.

  • Am Anfang steht die Trennung. Ella hat die Nase voll von ihrem Mann Amnon, der ihr mit seiner herrischen Art nur noch auf die Nerven geht, und verkündet, dass sie sich von ihm trennen will.


    Als Amnon ausgezogen ist, gerät Ella plötzlich ins Zweifeln. War die Entscheidung richtig? Durfte sie dieses Trauma dem gemeinsamen Sohn, dem sechsjährigen Gili, zumuten? Soll sie nicht doch lieber zu Amnon zurückkehren?


    Auf einer Schabbatfeier von Gilis Klasse hatte sie Oded zum ersten Mal gesehen, den Mann von Michal, den Vater von Gilis Freund Jotam. Er geht ihr nicht mehr aus dem Kopf, doch sie weiß ja, dass er verheiratet ist.


    Eines Tages stellt sich heraus, dass auch Oded und Michal getrennte Wege gehen werden...


    Zeruya Shalev ist wie kein/e andere/r mir bekannte Autor/in Meisterin darin, das Seelenleben ihrer Protagonisten förmlich bloßzulegen, zu sezieren, "Seelenarchäologie" zu betreiben, wie es creative so schön in der Leserunde genannt hat. Man ist am Geschehen, an den Gedanken und Gefühlen der Hauptfigur Ella so nahe dran, dass es schon beinahe wehtut, vor allem, wenn man die eine oder andere Parallele zum eigenen Leben entdeckt oder sich fragt, wie man an ihrer Stelle reagiert oder gehandelt hätte.


    Der schmerzhafte Prozess der Trennung, der Umgang mit Gili, der nicht mehr der liebe, süße kleine Junge ist, sondern sich plötzlich zornig und bockig aufführt, die widerstreitenden Gefühle einer neuen Liebe und schließlich der dornige Weg zu einer neuen, "späten" Familie, zu diesem Phänomen der heutigen Zeit, der Patchworkfamilie - das alles erleben wir hautnah durch Ellas "Brille". Die Ich-Erzählung im Präsens, die langen, fast gehetzten Sätze ohne Anführungszeichen reißen den Leser in einen Strudel aus Emotionen, dem man sich kaum entziehen kann.


    Beim Lesen schwankte ich ständig zwischen Bedauern, Verständnis, Wut und Genervtheit über Ella. Keine Figur ist durchweg sympathisch oder unsympathisch, schwarz oder weiß, wir erleben die Beteiligten schonungslos so, wie sie sind, in guten wie in schlechten Tagen.


    Ein Jahreshighlight, nicht zuletzt aufgrund einer wunderbaren Leserunde, die mir vielleicht noch ein paar zusätzliche Facetten erschlossen hat.


    5ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Gleich vorweg: Es ist sehr schwierig - fast unmöglich - die Eindrücke zu diesem Buch in Worte zu fassen!


    Es ist unbeschreiblich, mit welcher Sprachgewalt, mit welcher Intensität die Schriftstellerin Gefühle, Motivationen und Handlungen beschreiben kann, ohne dabei nur annähernd kitschig oder sentimental zu werden. Und das immerhin auf beinahe 600 Seiten, ohne nur einmal langweilig zu werden.


    Man leidet mit der Protagonistin, man fühlt mit ihr, man lacht mit ihr und man schüttelt den Kopf ob ihrer Naivität. Ich fühlte mich absolut in die Geschichte hineingezogen, erkannte mich in vielen Situationen wieder und fand es so beeindruckend und fast schon beängstigend, wie authentisch und realitätsnah die Ängste, Gewissensbisse, Schuldgefühle und die Anflüge von Hoffnung von Ella geschildert werden, die durch die von ihr initiierte Trennung ihre Familie zerstört.


    Für mich immer wieder sehr schön zu lesen waren die Parallelen zur Archäologie. Ein Vulkanausbruch auf der Insel Thera löschte die Minoische Kultur aus, Ella selber bezeichnet die Trennung von ihrem Mann Amnon als eine "Naturgewalt". Archäologische Grabungen, Gesteinsuntersuchungen, Ruinensezierung hier - Seelenausgrabung, Bloßlegen der tiefsten menschlichen Abgründe da. Der Vergleich hat mir sehr gut gefallen!


    Das Buch ist ein absolutes Lesehighlight in diesem Jahr, es macht sehr nachdenklich, veranlasst den Leser, auch die eigene Situation zu reflektieren, Werte zu erkennen und die Gewissheit zu erlangen, dass das Glück ein Vogerl ist bzw. ob wir nicht oft ein wenig leichtfertig damit umgehen!


    Ich möchte mich ebenfalls für die so aufschlussreiche, sehr nette Leserunde bedanken! Und ich freue mich schon auf weitere Bücher der Autorin!


    Eine absolute, uneingeschränkte Leseempfehlung von mir! :tipp:


    5ratten

    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative

  • In der Zeit-online gibt es einen hochinteressanten Artikel von/über Zeruya Shalev, in dem sie zu ihrem Attentat Stellung nimmt genauso über ihre Beweggründe, Schriftstellerin zu werden und nicht zuletzt sehr viel Aufschlussreiches über "Späte Familie"!

    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative

  • Danke für diesen tollen Artikel!


    Interessant, dass das Ende von vielen negativ aufgenommen wurde, ich fand es eigentlich sehr passend.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Vielen Dank creative für den sehr interessanten Artikel!


    Dem was ihr bereits über "Späte Liebe" geschrieben habt, ist nichts mehr hinzuzufügen. Für mich ein absoluter :tipp: dem ich 5ratten gebe.


    Ich freue mich darauf noch andere Bücher dieser Autorin zu lesen.


    Und auch ich möchte mich für die nette Leserunde bedanken! Es hat Spaß gemacht mich mit euch austauschen zu können und das eine oder andere unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten!

  • Hallo zusammen,


    Ende September hat die Leserunde zu Zeruya Shalevs Roman Späte Familie begonnen und ich habe noch nie so lange für knappe 600 Seiten gebraucht: aber nicht weil es langweilig, zäh oder sonst etwas war - sondern im Gegenteil! Dieses Buch ist phantastisch: die Geschichte hat mich an vielen Stellen sehr berührt, oft sogar richtig gehend bewegt - zu eigenen Gedanken, zu Überlegungen über Situationen a la "was wäre wenn?"... Aber vor allem hat Zeruya Shalev es geschafft, dass ich mich in all ihre Figuren einleben konnte, ja, ich hatte fast das Gefühl, die Hauptperson, Ella, wäre eine Freundin von mir! Und das ganze schafft die Autorin in einer unglaublich intelligenten, bild- und emotionsreichen Sprache... ich bin durchweg beeindruckt!


    Zeruya Shalev hat meines Erachtens viel viel mehr Aufmerksamkeit verdient - auch deshalb empfehle ich sie nahezu uneingeschränkt jeder/jedem LeserIn... :herz:


    Und es ist zwar erst Oktober, trotzdem denke ich, dass dieses Buch mein Lese-Highlight 2006 ist! :tipp:
    ... und natürlich vergebe ich 5ratten


    Liebe Grüße
    dubh


    PS: An dieser Stelle auch noch ein DANKE an die nette Leserunde! :knuddel:

    Liebe Grüße

    Tabea

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    OT: Thera
    OA: 2005
    592 Seiten
    ISBN: 978-3827004741


    Inhalt:
    Der Zerfall einer Ehe, eine Lebenskrise, ein hoffnungsvoller Neuanfang
    Eine Frau beschließt von einem Tag auf den anderen, ihre kriselnde Ehe zu beenden, sich von ihrem Mann zu trennen. Obwohl sie eine selbstständige, selbstbewusste Frau ist, sieht sie sich in der von ihr herbeigesehnten Freiheit zunächst mit einer lähmenden Angst vor der Einsamkeit konfrontiert. Sie leidet unter Depressionen und dem furchtbaren Schuldgefühl ihrem Kind gegenüber, dem sie den Vater, die Sicherheit der Familie genommen hat. Dann kommt eine neue Liebe. Eine neue Familie mit Kindern aus einer ebenfalls geschiedenen Ehe entsteht, ein hoffnungsvoller Neuanfang, der Behutsamkeit, Mut und Geduld von allen Beteiligten erfordert. (Quelle: Amazon)


    Eigene Meinung:
    Diese Geschichte ist so geschrieben, dass man durchaus sagen kann, genauso kann es sich zutragen. Eine der wenigen Geschichten, die da anfängt, wo normalerweise andere aufhören.
    "Späte Familie", ist ein Buch, welches ich bestimmt nicht vergessen werde. Zeruya Shalev schafft es eine Beziehung zu ihren Lesern aufzubauen, die fast schon unheimlich ist. Das Buch ist durchgehend in der 1. Person Präsens geschrieben und vermittelt dadurch eine unglaubliche Nähe zu der Protagonistin. Was viele hier auch schon aufgeführt haben. Die Protagonistin ist keine Heldin. Sie ist ein Mensch der liebt, hasst, verzweifelt, hofft und viele Höhen und Tiefen durchlebt. Die Protagonistin ist ein Mensch, den man ernst nimmt. Ungeschminkt werden ihre Gedanken bloßgelegt und man leidet mit ihr, versteht sie manchmal nicht, zweifelt an ihren Taten und ärgert sich auch über ihr Blauäugigkeit. Wenn man aber ehrlich ist, wird man feststellen, dass jeder Mensch mehr oder minder dieselben Gedanken hat, sie aber nie verbalisieren würde, aus der Angst heraus sich lächerlich zu machen. Daraus entsteht diese schon fast intime Nähe.
    Dieses Buch kann man nicht einfach nur lesen. Man wird gezwungen sich an diesem Buch zu beteiligen, denn die Gedankenflut die den eigenen Kopf erreicht, ist manchmal schon fast erschlagend.
    Dieses Buch hat mich sehr bewegt und ich hatte mehr als einmal das Gefühl, dass Zeruya Shalev meine Gedanken lesen kann. Das macht sie zu einem Seelenverwandten und ich würde viel dafür geben mit dieser Frau einmal zu reden.
    Dieses Buch hat mich ganz besonders berührt und sehr beschäftigt und ich habe keine einzige Seite bereut zu lesen.


    5ratten


    Tina