Joan Didion - Das Jahr magischen Denkens

Es gibt 6 Antworten in diesem Thema, welches 2.796 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Struppi.

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    Die amerikanische Schriftstellerin Joan Didion erzählt in diesem Essay vom Tod ihres Mannes am 30. Dezember 2003. Und von dem Jahr, das folgte.
    Der Tod von John Gregory Dunne - Schriftsteller wie Joan Didion selbst - fällt in eine ohnehin sehr schwere Phase in ihrem Leben: Sie und ihr Mann sind gerade vom Krankenhaus Beth Israel North in New York, wo ihre einzige Tochter Quintana im Koma liegt, nach Hause gekommen, als ein Herzinfarkt Dunne niederstreckt. Er ist sofort tot
    Quintana kommt zwar nach einiger Zeit wieder zu sich, gerät aber Ende März 2004 erneut in Lebensgefahr, als sie nach einer Hirnblutung erneut ins Koma fällt.
    Joan Didion beschreibt ihr Handeln in diesem so schwierigen Jahr, sie beschreibt, wie sie sich nicht von ihrem Mann zu lösen vermag. Das "magische Denken" bezieht sich dabei auf rituelle Handlungen: Wenn sie dies oder jenes tut oder unterlässt (z.B. seine Kleider weggeben), getan oder unterlassen hätte - vielleicht würde John zurückkehren. Denn das Schlimme an einem so plötzlichen Tod ist sein vollkommen unvermittelter Einbruch in das alltägliche Einerlei, das aber nach ihm selbstverständlich nicht wiederkehrt.


    Eine nicht geringe Rolle spielt in Didions Essay auch die Reflexion über das Selbstmitleid, das sie bei sich feststellt und zu dem sie sich sehr ambivalent positioniert: Einerseits verweist sie darauf mit wieviel Herablassung sie etwa auf die Publikation von Leftover Life to Kill von Caitlin Thomas - der Witwe von Dylan Thomas - reagiert hat, als es 1957 publiziert wurde, andererseits räumt sie ein, dass es Verluste gibt, die einen mit der ganzen Wucht der Sinnlosigkeit des Lebens konfrontieren.


    "The Year of Magical Thinking" wurde von der Kritik begeistert aufgenommen und ist mit Sicherheit ein sehr berührender Text. Jedoch habe ich mich nicht selten während der Lektüre gefragt, ob mir das Ganze nicht zu persönlich ist, um es überhaupt mit der nötigen Distanz lesen zu können: Sehr persönliche Texte sind ja häufig für Außenstehende nur in ihrem dokumentarischen Charakter interessant, nicht als ästhetisches Gebilde.
    Joan Didion rutscht tatsächlich oft in die Topoi ab, die man gut kennt, in das Festhalten an den harten Fakten (sie betont, wie absurd für sie die Vorstellung war, sich einer Autopsie zu widersetzen: Sie wollte eine medizinische Aufarbeitung der Gründe für den Tod ihres Mannes), das Zurückziehen ins Schneckenhaus, die Unmöglichkeit, sich auf anderes als auf den Verlust zu konzentrieren usw.


    Zugleich - und das macht den Text dann doch interessant - weiß Didion um diese Topoi, sie will nichts Besonderes sein, sondern einen vielleicht nicht einmal exemplarischen, aber ganz sicher auch nicht besonders schrecklichen Fall schildern. Sie zitiert seitenweise aus Abhandlungen (soziologischen oder auch medizinischen), die sich mit dem Sterben und seinen Folgen für die Hinterbliebenen beschäftigen, sie geht auf die Suche nach Darstellungen von Hinterbliebenen in der Literatur - all das um zu zeigen, dass ihr Fall, so besonders hart er durch die zeitliche Nähe der Lebensgefahr der Tochter und des Todes des Ehemannes erscheint, von ihr selbst nicht als besonders herausgehoben betrachtet wird. Diese Unaufgeregtheit und das völlig fehlende Pathos zeichnen den Text sehr positiv aus.


    Außerdem sind die Gedanken Didions zur fehlenden Nähe, auch nach einer Ehe von 40 Jahren, sehr faszinierend. Didion streicht heraus, wie sehr sie selbst dachte, ihren Mann gut zu kennen, all seine Reaktionen voraussehen zu können - und dann, in kleinen Schnipseln, die sie nach seinem Tod findet, verliert sie sehr schnell diese Gewissheit. Es geht dabei nicht um dunkle Geheimnisse, die sie entdeckt, sondern um völlig banale Dinge, die ihr zeigen: Der Mann, mit dem ich 40 Jahre lang verheiratet war, war immer noch eine von mir getrennte Person.


    Sie schreibt all dies wertfrei, sie missioniert nicht, pfropft nicht auf, ihre Darstellungen verlieren nie den Charakter des ganz Persönlichen, das keinen Anspruch auf Objektivität erhebt, aber ihr selbst ganz viel Verständnis für die Schmerzen anderer Hinterbliebener beschert.
    Genau: Da ist noch die Unterscheidung zwischen Schmerz (grief) und Trauer (mourning), "The Year of Magical Thinking" ist eher ein Buch über den Schmerz, wenn er auch wie in Watte verpackt erscheint. Vielleicht ist er deshalb so eindringlich, weil er in seiner mangelhaften Kommunizierbarkeit sichtbar gemacht wird - und vielleicht ist das Buch dort am schlechtesten, wo Didion vor dem Schmerz kapituliert. Zugegebenermaßen tut sie das selten. Übel nehmen kann man ihr diese Momente des Zusammenbruchs nicht, auch nicht, dass sie sie nachträglich nicht herausredigiert hat. Der Text, wie er ist, muss in seiner Unabgeschlossenheit und Unvollkommenheit reichen.

  • Es ist schon interessant für mich in so einem Forum mal ganz direkt und unaufwendig zu erfahren, wie unterschiedlich das gleiche Buch auf verschiedene Leser wirkt.
    "The Year of Magical Thinking" hatte ich nach der "Zeit" Rezension sofort gekauft, weil es genau dieses Thema ist, um das ich kreise.........und merkwürdig, ich könnte nicht sagen warum - es hat mich überhaupt nicht berührt, die dramatischen Ereignisse im Leben der Autorin sind für mich fern, völlig Papier geblieben.
    Am Rande ebenfalls begleitet von der Frage, warum jemand bereit ist sein Privatestes in die unbekannte Welt zu kippen, ganz ohne literarische Umsetzung/Verfremdung. Naja, ich bin ja auch kein Schriftsteller und muß es nicht verstehen.

  • Hallo gantenbeinin (was für ein Name :) ),


    Zitat

    und merkwürdig, ich könnte nicht sagen warum - es hat mich überhaupt nicht berührt, die dramatischen Ereignisse im Leben der Autorin sind für mich fern, völlig Papier geblieben.


    Na, so ganz weit weg von meiner Einschätzung ist das doch nicht. "Berührend" oder gar "dramatisch" sind nun ganz die falschen Worte, um diesen Text zu beschreiben. Er ist einerseits sehr sachlich (was ich - wie oben beschrieben - noch nicht für sonderlilch interessant, sondern für einen Topos im Umgang mit dem Tod halte), dann irgendwie distanziert und wenig pathetisch (was ich für originell und aus den beschriebenen Gründen für lobenswert halte).


    Zitat

    Am Rande ebenfalls begleitet von der Frage, warum jemand bereit ist sein Privatestes in die unbekannte Welt zu kippen, ganz ohne literarische Umsetzung/Verfremdung.


    Auch hier: Zustimmung! Ergänzt um die Bemerkungen zum Schaden, den die ästhetische Dimension meist bei solchen sehr persönlichen Texten nimmt.


    Herzlich: Bartlebooth.

    Einmal editiert, zuletzt von Bartlebooth ()

  • „Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf.“
    Wieviel Leid erträgt ein Mensch? Während ihre einzige Tochter Qunitana im Krankenhaus aufgrund einer heimtückischen Krankheit mit ihrem Leben ringt, muss Joan Didion, eine selbstbewusste und toughe Frau, die zeit Ihres Lebens alles in der Hand und unter Kontrolle hatte, mitansehen, wie ihr Mann und Lebensmensch an Herzversagen stirbt. Sie will und kann dieses Ableben nicht wahrhaben, wie ferngesteuert „funktioniert“ sie weiterhin, organisiert die Formalitäten, informiert Freunde und Bekannte. Trauer lässt sie nicht zu, immer wieder erscheint der Begriff des „Selbstmitleides“.


    Sie, die immer alles unter Kontrolle hatte, („Du bist in Sicherheit. Ich bin da.“), die für jedes Problem eine fachmännische Meinung und Lösung findet, steht dieser Situation völlig hilflos gegenüber. In wissenschaftlichen Abhandlungen über Trauerforschung sucht sie Worte und Erklärungen für ihre Gefühle, doch sie wird nicht fündig. Alles klingt lächerlich, überheblich und besserwisserisch, nur wer eine solche Situation wirklich selber erlebt stellt fest, dass man sie nicht in Worte fassen kann.


    Mir hat das Buch recht gut gefallen, es ist ein sehr persönliches Buch und ich habe auch überlegt, welche Motivation Joan Didion hatte, solch eine intime Geschichte an die Öffentlichkeit zu tragen. Aber vielleicht brauchte sie das Buch, um selber die Trauer, die sie solange nicht zuließ, zu bewältigen.


    4ratten


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    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative

  • Passt zwar nicht zum Thread aber gerade jetzt sehe ich das Bartlebooth nicht mehr angemeldet ist :heul: Das finde ich wirklich unheimlich schade, jetzt bin ich traurig. :sauer:


  • Passt zwar nicht zum Thread aber gerade jetzt sehe ich das Bartlebooth nicht mehr angemeldet ist :heul: Das finde ich wirklich unheimlich schade, jetzt bin ich traurig. :sauer:


    Das habe ich auch anhand dieses Threads festgestellt... :sauer:

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    Klappentext:
    Vierzig Jahre war Joan Didion mit John Gregory Dunne verheiratet, als er am Abend des 30. Dezember 2003 einen Herzinfarkt erlitt und starb. Das Jahr magische Denkens erzählt von ihrer Ehe mit dem Schriftsteller, von der eigenen Welt zweier kreativer Menschen, die einander im Leben und in der Arbeit alles waren. Es erzählt von der schweren Krankheit der einzigen Tochter Quintana, die zu dem Zeitpunkt, als ihr Vater starb, auf der Intensivstation eines New Yorker Krankenhauses um ihr Leben kämpfte. Indem sie darüber schreibt, versucht Joan Didion, dem Geschehen einen Sinn abzugewinnen, es einzuordnen in Zusammenhänge von Ursache und Wirkung, von Ordnung und Zweck. Ihr Buch lotet auf klügste Weise die Grenzen der Klugheit aus, es ist ein Aufbegehren des Verstandes gegen die existentielle Unvernunft des Todes und eine brillante und bewegende Studie der Trauer.


    Autorin:
    Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für große amerikanische Zeitungen und war u.a. Redakteuerin der "Vogue". Sie hat fünf Romane und zahlreiche Sachbücher veröffentlicht. Heute lebt sie in New York City.


    John Gregory Dunne, geboren 1932, war ein US-amerikanischer Schauspieler, Drehbuchautor und Schriftsteller.


    Meinung:
    Das Buch handelt davon, wie Joan Didion in dem darauffolgendem Jahr versucht, sich mit dem Verlust ihres Ehemannes und dem daraus resultierenden Leid auseinanderzusetzen, wie sie ihre irrationalen Gedanken, dass er noch mal zurückkehren könnte, beiseite schiebt. Anhand von Erinnerungen aus ihrer fast 40-jährigen Ehe und Textstellen aus der Literatur und Studien zum Thema Tod/Leid schafft sie es, vor allem im zweiten Halbjahr als ihre Tochter wieder auf dem Wege der Besserung ist, ihre Trauerarbeit abzuschließen und sich auf ein Leben danach zu konzentrieren und wieder mehr Kontrolle über ihr eigenes Leben zu bekommen.
    Mir hat das Buch ausgesprochen gut gefallen. Ich habe es vor über einem Jahr schon einmal angefangen aber auch wieder abgebrochen, deshalb war ich überrascht, das es mich diesmal so in seinen Bann gezogen und mir das Leid, dass die Autorin empfand, deutlich gemacht hat.
    In der ersten Hälfte gab es Momente, in denen ich fand, dass die Autorin zu häufig aus Studien zitiert hat, was mich in meinem Lesefluss gestört hat, aber in der zweiten Hälfte hat das deutlich nachgelassen, deshalb:


    4ratten :marypipeshalbeprivatmaus: