Franz Kafka - Amerika

Es gibt 53 Antworten in diesem Thema, welches 16.309 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von hansol.

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    Inhalt
    Karl Rossmann wird als 16-Jähriger aus dem elterlichen Haus geworfen und mit einem Schiff nach Amerika verfrachtet, wo er sein Glück versuchen soll. Er wird zunächst von seinem reichen Onkel aufgenommen, fliegt dort aber nach zwei Monaten wegen einer Nichtigkeit ebenfalls raus. Darauf beginnt Karl sich auf eigene Faust durchzuschlagen.


    Teilnehmer
    Bettina
    dora
    Manjula


    Eine kurze Bitte: Damit das ein bisschen angenehmer zu lesen ist, postet erst, wenn ihr angefangen habt. Die Beiträge "Buch liegt bereit, ich fange heute Abend an" ziehen das ganze immer so sehr in die Länge.


    Interessant für Leserunden-Neulinge ist sicherlich die Leserunden-FAQ. Dort findet ihr z.B. auch Informationen zu Spoilern, ...


    Viel Spaß! :smile:

  • Hallo,
    da wir (vor allem ich) Seychella gestresst haben, diesen Thread zu eröffnen, möchte ich meine erste bescheidene Eindrücke posten.


    Ich lese folgende Ausgabe:

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    Schon nach den ersten Seiten erinnert mich Karl Rossmann an manche Protagonisten aus Fellinis neorealistischen Filmen.
    (auch wenn Fellini fast ein halbes Jahrhundert später und in einem anderen Zusammenhang tätig war)
    Die Begegnung mit dem Heizer, Rossmanns Zögern und Zaudern, Unsicherheit und Misstrauen, die sich innerhalb von Sekunden in Anhänglichkeit und Zuneigung verwandeln, sind vielleicht einem 16jährigen zu verzeihen, doch bei Kafka ( und nach Alfas Statement ) bezweifele ich eine "positivere" Entwicklung des Jünglings.


    Gute Nacht,
    dora, die jetzt mit Kafka ins Bettchen geht :zwinker:

    Einmal editiert, zuletzt von dora ()

  • Ich habe gerade Kapitel 1 Der Heizer gelesen und das Buch fängt ganz gut an. Ich habe übrigens gelesen, dass dieses Kapitel auch separat als Erzählung veröffentlicht worden ist. Und erzählt ist dieses Kapitel gut. Als Karl z. B. in der Kajüte beim Kapitän steht, kümmert er sich fasziniert um den Ausblick - und die kindliche Freude an diesen neuen Bildern fand ich gut beschrieben.


    Karl ist ein typisches Kind (er ist 16, könnte aber locker jünger sein): Er hat gar keine Ahnung, auf was er sich so alles einlässt und verschätzt sich das ganze Kapitel über in der Bewertung von Situationen.
    - Er überlässt einem Wildfremden seinen Koffer zur Aufbewahrung, weil er den Schirm vergessen hat.
    - Er verläuft sich und statt den Rückweg zu suchen, platzt er in ein fremdes Zimmer, wo er sich von der Bitte um Hilfe ablenken lässt.


    Ja, Karl hat einen leichten Sockenschuss, aber ich finde ihn einfach nur völlig kindlich, fast in seiner eigenen Welt. Zumindest in Kapitel 1 ist er "nur" ein Halbpfosten (zur Erläuterung des Begriffs Vollpfosten siehe hier)


    Was ich mich frage: Warum wurde Karl eigentlich verstoßen? Ich hätte vermutet, dass man früher eher das Dienstmädchen wegen so einer Geschichte auf die Straße gesetzt hätte.


    Nachdem der Onkel sich zu erkennen gegeben hat, merkt man, dass Karl keinen Sinn dafür besitzt, wie Erwachsene die Menschen in verschiedene Rangstufen einordnen. Für ihn ist die Situation gesellschaftliches Glatteis und er rutscht. Wobei: Es stört ihn ja auch nicht, aber es fiel mir auf, wie vehement der Onkel versuchte, ihn vom Heizer weg zu bekommen. Karl scheint gar nicht zu verstehen, was das soll. Gerechtigkeit geht für ihn über Rang.

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    Einmal editiert, zuletzt von Bettina ()

  • Über Nacht kam mir sowieso noch ein Gedanke:
    Eine merkwürdige Familie hat er ja, der gute Karl. Der Vater verstößt ihn und schickt ihn nach Amerika, ohne in irgendeiner Form weitere Sorge für ihn zu tragen. Wer letztlich einen nahen Verwandten dort benachrichtigt, ist das Dienstmädchen, das ihn verführt hat.

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  • Hallo Bettina,
    habe auch gestern Abend das erste Kapitel zu Ende gelesen und staunte doch über Rossmanns plötzlichen Mut. So wie er sich vom Heizer eigentlich grundlos aufhalten ließ, setzte er sich treuherzig für diesen ein. Welch herrliche Naivität da doch zum Vorschein kommt.
    Mich erstaunt auch die Vorgehensweise der Eltern, wieviele Großbürgerliche haben Dienstmädchen geschwängert, ohne verheerende Folgen für den Samenspender, bin gespannt, was da noch zum Vorschein kommt.
    Aufgefallen ist mir auch die permanente Verteufelung der Ausländer, der böse Slowake, der den Koffer stehlen will, die unsäglichen Rumänen, nur der Heizer ist in Rossmanns Augen ein guter und vertrauenswürdiger Mensch, schließlich ist er ein Deutscher...


    So, um 10 beginnt mein Unterricht, bis später.
    Liebe Grüße
    dora

  • Aufgefallen ist mir auch die permanente Verteufelung der Ausländer, der böse Slowake, der den Koffer stehlen will, die unsäglichen Rumänen, nur der Heizer ist in Rossmanns Augen ein guter und vertrauenswürdiger Mensch, schließlich ist er ein Deutscher...


    Bin ja mal gespannt, wie sich das in den USA anlässt, denn da sind ja soooo viele Amerikaner...


    Ja, die Art, wie Karl Bekanntschaften macht, empfinde ich auch als kindlich. Für Kinder sind Freunde einfach zu finden und zu verstossen. Karl bekommt eine Visitenkarte und schon hat er einen so tollen Freund, dass der gleich auf den Koffer aufpassen darf. Karl ist wegen des Verlaufens etwas verstört und der erste, der ihm begegnet und mit ihm redet, ist folglich auch ein netter Mensch.
    Das ist wie mit kleinen Kindern: Wer das Pflaster hat oder den Löffel mit dem Brei, ist der tolle Hecht.

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  • Hallo Bettina,
    bin in der Hälfte des 3.Kapitels Ein Landhaus bei New York.
    Aber zuerst zu Kapitel 2 der Onkel:
    Bin ich zu blöd um das Benehmen dieses Onkels zu verstehen? Sobald er in Erscheinung tritt, bekomme ich einen Knoten in den Magen, er ist so undurchschaubar, oder ist es Rossmanns Verlorenheit, die ihn so fremdartig anmuten lässt?
    Rossmann erstaunt mich immer wieder, einerseits lässt er sich auf dem Balkon zu stehen verbieten, andererseits hat er keine Hemmungen ein Klavier zu verlangen. Du hast vollkommen recht mit deinem Kleinkind-Vergleich. :zwinker:


    Beeindruckt hat mich in diesem Kapitel Rossmanns Beschreibung der Straße, die er von seinem schmalen Balkon beobachtet, diese Zeilen sind die einzigen, wo Bezug auf New York genommen wird, eigentlich könnte alles in einer x-beliebigen Stadt stattfinden, auch der Englisch-Lehrer und der Reitlehrer bleiben vollkommen gesichtslos, eigentlich unbedeutend.


    Der dritte Kapitel ist bis jetzt recht amüsant, doch dazu mehr, wenn ich ihn beendet habe.
    Liebe Grüße
    dora


  • Aber zuerst zu Kapitel 2 der Onkel:
    Bin ich zu blöd um das Benehmen dieses Onkels zu verstehen?


    Ich bin es auch :zwinker: Ich bin bisher nicht dahintergekommen, was für ein Muster hinter den strikten und seltsamen Anforderungen steht. Das einzige, was ich mir vorstellen kann, ist: Er akzeptiert alles, was in irgendeiner Form bildet und förderlich ist. Auf dem Balkon stehen ist Müßiggang, mit dem Schreibtisch spielen ist sinnlos. Klavier spielen, reiten und Fremdsprachen sind offensichtlich gesellschaftlich und beruflich einwandfreie Tätigkeiten.


    Die Uhrzeiten sind allerdings kurios: Morgens um halb sechs reiten *kopfschüttel* Wenn man sich Artikel über die heutige USA anschaut, gehen angeblich auch eine Menge Amerikaner zu nachtschlafener Zeit Joggen oder ins Fitnessstudio. Kommt auf dasselbe raus...

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  • Ich habe Kapitel 2 gerade beendet und wundere mich über den Onkel. Ist das einer von der Sorte, der nicht nur die Disziplin liebt, sondern auch eine Befriedigung daraus zieht, anderen den Spaß zu verderben? Denn das wäre der Disziplin ja unabträglich.


    Und sinnlos sind seine Forderungen auch noch: Jemandem nachmittags einen Ausflug ins Umland zu gestatten, ihn am nächsten Tag wieder vor dem ersten Hahnenschrei wieder auf dem Pferd sehen zu wollen. Ich glaube, da fehlt dem Onkel der Sinn fürs Realistische. Wenn ich mir dessen Firma ansehe und die Beschreibung der Telefonisten, dann ist das dieselbe Sparte.
    Wenig menschlich, vor allem, wenn man sich Details anschaut, z. B. "Das Grüßen wurde abgeschafft".


    Meint Kafka mit "Amerika" eigentlich Amerika oder ist das einfach der am besten geeignete Ort für eine Utopie?
    Ich bin gerade am Überlegen: Ich habe mal Ausschnitte von Metropolis gesehen und irgendwie kam ich mich daran erinnert vor.


    Ein Fazit ziehe ich jetzt schon mal: Ohne die Diskussion nach der Rezi von Alfa würde ich den Roman völlig anders lesen und ich schaue aktuell viel mehr auf Details. Ich weiß nicht, wie ich am Ende denke, aber soviel kann ich jedenfalls schon sagen.

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    Einmal editiert, zuletzt von Bettina ()

  • Kapitel 3 lässt mich völlig desorientiert zurück. Was ist denn da los?
    Der Onkel, ein merkwürdiger Prinzipienreiter, was ihm selber unangenehm ist und er weiss, dass das auch seiner Umwelt unangenehm ist. Pollunder und Green wirft Karl vor, dass sie ihn mit Absicht festgehalten haben, damit er nicht mehr rechtzeitig bei seinem Onkel ist. Hatten die Angst um ihre Geschäfte, weil der Onkel Karl so wahnsinnig geliebt haben soll?
    Auf Anhieb klingt Mack so, als habe er Karl ins Haus locken lassen, damit er ihn Klavier spielen hören kann. Klara ist undurchschaubar und ihr Versuch, Karl ins Zimmer zu locken kann bei einem so kindlichen Kerl ja nur scheitern.


    Ein grosses Fragezeichen und einsichtig ist es jedenfalls hinten bis vorne nicht.
    Mal eine Frage an die, die das Buch schon gelesen haben: Kommt in irgendeiner Form eine Erklärung im weiteren Verlauf der Geschichte?


    Ich gehe mal ins Bett und vielleicht hat der Treppensturz heute nicht alle Sinne beeinträchtigt - vielleicht fällt noch der Groschen bei mir pfennigweise. Ich werde aus den Personen und ihren Handlungen heute Abend nicht mehr schlau.


    dora, wie ergeht es Dir mit dem dritten Kapitel?

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  • Hallo Bettina,
    ein Buch mit so vielen unerwarteten Wendungen habe ich schon lange nicht mehr gelesen, und ich muss sagen, ich bin begeistert.
    Die Gründe für den Entschluss des Onkels sind mir auch bis jetzt schleierhaft, aber eigentlich unwichtig.
    Viel mehr verblüfft mich Rossmanns Reaktion auf den Brief... er spaziert gemütlich zur Tür raus, ist glücklich seinen Koffer wiedererlangt zu haben und bedauert nur den Wurst-Geruch der Kleider :breitgrins:, das ist doch faszinierend.
    Wenn ich eine Assoziation zum bisher gelesenem machen würde, dann wäre es: ich staune.
    Morgen mehr...
    :todmuede:


    liebe Grüße
    dora

  • [quote author=Bettina]
    Ein grosses Fragezeichen und einsichtig ist es jedenfalls hinten bis vorne nicht.
    Mal eine Frage an die, die das Buch schon gelesen haben: Kommt in irgendeiner Form eine Erklärung im weiteren Verlauf der Geschichte?[/quote]


    Da du es unbedingt wissen willst (:zwinker::(



    Ich verfolge diese Leserunde natürlich mit Spannung und noch viel gespannter bin ich auf eure Schlussfazite. Ich habe zu Beginn des Romans auch vieles hingenommen, gegen Ende mochte ich aber nicht mehr... Wobei mir die Story mit dem Heizer schon ziemlich auf die Nerven ging. Wie kann man sich nur derart ablenken lassen? Und wie kann man nur derart unkritisch sein? Nur, weil der Heizer offenbar einen guten ersten Eindruck hinterlässt, heisst das ja noch lange nicht, dass tatsächlich alles wahr ist, was er erzählt.
    Und dass Rossmann seinen Koffer einfach so hat stehen lassen - das konnte ich ihn nicht verzeihen. So viel Naivität im Alter von 16 Jahren (auch wenns ein anderes Jahrhundert war) ist aus meiner Sicht unfassbar. Wenn das mein Junior wäre... würde ich ihn wahrscheinlich auch mit einem Einfachticket auf einen Dampfer setzen (und mich fragen, was ich falsch gemacht habe). *schüttel* Vollpfosten. Ehrlich. *schon wieder aufreg* (Ja, es ist ja "nur" ein Buch - gaaaaanz ruhig, Alfa...)


    :winken:


    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Erst mal an Alfa: :trost: und immer mit der Ruhe *g*


    Und dass Rossmann seinen Koffer einfach so hat stehen lassen - das konnte ich ihn nicht verzeihen. So viel Naivität im Alter von 16 Jahren (auch wenns ein anderes Jahrhundert war) ist aus meiner Sicht unfassbar.


    Mich verblüfft es auch, weil er in anderen Szenen in Misstrauen förmlich badet. Er ordnet ganz strikt in schwarz und weiß und seine Kriterien sind seltsam, da nicht nachvollziehbar.


    @Dora: Stimmt, Rossmann spaziert einfach so aus dem Haus und der zweite Rausschmiss innerhalb kürzester Zeit juckt ihn gar nicht. Das ist mir auf Anhieb gar nicht aufgefallen, aber Du hast Recht. Die Familie ist echt merkwürdig.

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  • So viel Naivität im Alter von 16 Jahren (auch wenns ein anderes Jahrhundert war) ist aus meiner Sicht unfassbar.


    Ich schalte mich hier noch einmal in die Diskussion ein. Was mir bei deinen Beschreibungen (und einigen anderen Lesern) hier auffällt, ist dass ihr unwahrscheinlich eng an der Handlung klebt.


    Da ich gestern mal wieder in der Oper war, ist mir folgender Gedanke gekommen, der Euch vielleicht hilft, auch mal anders an Kafka heranzugehen: Wenn man nur den (übersetzten) Operntext sieht, wie "ich verzehre mich nach Dir", dann wirkt das für mich kitschig (so wie Eure Nacherzählungen hier auf mich tatsächlich diese Naivität Kafkas zeigen würden, aber...). In der Oper wird dieser kitschige Text nun aber auf italienisch in kunstvoller Weise gesungen. Aus dem kitschigen Text wird nun in meinen Ohren Kunst, ich bin ergriffen (auch wenn die eigentliche Handlung der Oper völlig übertrieben ist). Bei Kafka geht es mir ähnlich. Aus der in der Nacherzählung naiven Handlung macht er Kunst. Ich habe auch dieses "Staunen" wie dora es beschreibt, wenn ich seine Kapitel lese.


    Schöne Grüße,
    Thomas

  • Hallo,
    bin in der Hälfte des 7. Kapitels: Ein Asyl


    Viertes Kapitel: Weg nach Ramses
    Wieso Ramses? Eine Anspielung an den Pharao Ramses ( ich weiss nicht mehr der wievielte), der Ägypten zu Reichtum brachte ?


    Rossmanns Entschluss, Robinson und Delamarche, nicht nur ohne Bedenken, sondern in der Überzeugung durch sie Arbeit zu finden, zu begleiten, bestätigt wieder seine, für den Leser fast unfassbare Naivität.


    Die Frage stellt sich, wie es um sein gesamtes Urteilsvermögen bestellt ist.
    Sein Weltbild existiert ausschliesslich aus Gegensätzen. Es gibt Recht und Unrecht, die Menschen sind gut oder schlecht, und so urteilt er auch über sich selbst.
    Die Eltern verstossen ihn mit einem Koffer, etwas Geld und einer Wurst nach Amerika, in keiner Zeile zweifelt Rossmann an dieser grausamen Tat, keine Wut, keine Trauer, er hat Unrecht getan und wurde für diese Unrecht bestraft.
    Nur beim Betrachten der Photographie sind die Sätze Aber der Vater wollte (…) nicht lebendig werden. und Die Mutter (…) ihr Mund war verzogen, als sei ihr Leid angetan worden und als zwinge sie sich zu lächeln. sind schon aussagekräftig.


    Der Heizer: Nicht Rossmann, sondern einem wildfremden Mann wird Unrecht getan (ob das stimmt, wissen wir nicht). Hier hat Rossmann überhaupt keine Bedenken sich für ihn einzusetzten, der Heizer ist in seinen Augen unschuldig.
    Der Onkel nimmt ihn auf, finanziert ihm eine Wohnung, einen Englischlehrer, Reitstunden, ein Klavier und ein kostbares Schreibpult und wirft ihn aus lächerlichem Grund raus. Auch hier akzeptiert Rossmann diese Strafe, er fühlt sich schuldig. Als später Robinson und Delamarche über seinen Onkel lästern, wird er wütend, hinterfragt nichts, zweifelt nicht an der Korrektheit seines Onkels als Geschäftsmann.


    In diesem Sinne urteilt er über Klara, Green und Pollunder.
    Noch zu Klara: Wollte sie ihn verführen und wurde agressiv als er sich wehrte? Und er soll das nicht verstanden haben? So unschuldig kann er ja nicht sein, schliesslich hat er ein Dienstmädchen geschwängert...andererseits würde Leidenschaft nicht in diesen Roman passen.
    In diesem Kapitel hat mich auch die Szene beeindruckt, als er den Weg zurück zu Green und Pollunder nicht findet, einerseits so empört über Klaras Benehmen, fest entschlossen das Haus zu verlassen, und dann dieses hilflose und verlorene Wirren durch endlose Gänge... ich habe sogar davon geträumt letzte Nacht :breitgrins:


    @Bettina:Da ich nicht weiss, wie weit du bist, schreibe ich noch nichts über die nächsten Kapiteln, mag nicht spoilern.
    Verrate nur: es gefällt mir :zwinker:


    liebe Grüsse
    dora


    P.S: @Klassikerfreund: Welche Oper :herz: hast du denn gesehen ?

  • Hallo Ihr beiden,


    so, leicht verspätet steige ich jetzt auch in die Leserunde ein. Die ersten Kapitel habe ich in einem Rutsch durchgelesen. Kafka zeichnet sich in meinen Augen durch eine täuschend leichte Lesbarkeit aus. Täuschend deshalb, weil die Fragen zum Gelesenen sich nachher um so heftiger aufdrängen. Hier also meine ersten Eindrücke:


    Der Hellste scheint mir Karl ja nicht zu sein: wie kann man nur seinen Koffer allein lassen! OK, ich bin eher der Typ, der während einer Bahnfahrt alle 5 Minuten die Fahrkarte kontrolliert und in ständiger Angst lebt, den Geldbeutel zu verlieren, aber Karls Verhalten war ja schon grob fahrlässig. Vor allem, da er ja während der Überfahrt ängstlich auf den Koffer geachtet hatte. Sein Irren durch das Schiff, ohne seine Kabine zu finden, ist ja auch so eine kafkaeske Situation.


    Auch sein Verhalten, als er den Onkel trifft, ist für mich schwer nachvollziehbar. Als Sechzehnjähriger, von den Eltern verstoßen, ohne Ausbildung und Anlaufstelle, müssten ihm doch ganze Steinblöcke vom Herzen gefallen sein, einen ihm wohlgesonnenen (und reichen) Verwandten zu treffen. Aber nein, der Heizer scheint ihm wichtiger.


    Und der Onkel kümmert sich anfänglich ja sehr um ihn (er hätte ihn ja als Hilfskraft im Betrieb einsetzen können, nach dem Motto „nun verdien Dir mal Deinen Aufenthalt“). Es scheint aber, als wolle er ihn im Gegenzug voll unter Kontrolle halten: Er will nicht, dass Karl Herrn Pollunder besucht und dessen Zuwiderhandeln wird überstreng bestraft. Sein merkwürdiges Verhalten kann ich mir nur mit einer extremen Herrschsucht, auch wenn es Unsinniges betrifft, erklären.


    Ach, und die Frauen. Zwei sind bisher aufgetaucht und beide sind gleich abstoßend. Und Karl ist ja eindeutig das Opfer: wegen der einen wird er von der Familie verstoßen, die andere steht zumindest in indirektem Zusammenhang mit der Trennung vom Onkel.


    Zu der Dienstmädchengeschichte: ich hätte auch eher gedacht, dass hier das Dienstmädchen (egal, wer jetzt wen verführt hat) auf die Straße gesetzt wird, aber



    Psst



    [size=7pt]Habt Ihr früher auch „Das Haus am Eaton Place“ angeschaut? Da wurde doch auch der Sohn des Hauses nach Indien verschickt, nachdem er das Hausmädchen geschwängert hatte.[/size]


    Was mir bisher sprachlich am besten gefallen hat, war in Kapitel 2 die Schilderung der Großstadt:


    Zitat

    …eine Straße, die zwischen zwei Reihen förmlich abgehackter Häuser gerade, und darum wie fliehend, in die Ferne sich verlief, wo aus vielem Dunst die Formen einer Kathedrale ungeheuer sich erhoben. Und morgends wie abends und in den Träumen der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der, von oben gesehen, sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinandergestreute Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich noch eine neue, vervielfältigte, wildere Mischung von Lärm, Staub und Gerüchen erhob, und alles dieses wurde erfasst und durchdrungen von einem mächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände verstreut, fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht wurde und das dem betörten Auge so körperlich erschien, als werde über dieser Straße eine alle bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen.


    Eine wunderbar kraftvolle Schilderung.


    Liebe Grüße
    Manjula


    EDIT: Skandal! Die Rechtschreibprüfung kennt das Wort kafkaesk nicht :breitgrins:

  • Guten Morgen,


    Manjula: du schreibst mir fast aus dem Herzen... :zwinker:

    Zitat

    Täuschend deshalb, weil die Fragen zum Gelesenen sich nachher um so heftiger aufdrängen.


    Ganz genau so ergeht es mir, vor allem, weil sich verschiedene Situationen immer wiederholen:
    - Er findet den Weg nicht zurück zur Kabine. (der Heizer)
    - Er findet in Greens Haus den Weg zum Wohnzimmer nicht zurück.
    ...in späteren Kapiteln kommt es noch zu solchen kafkaesken Szenen.



    Zitat

    Was mir bisher sprachlich am besten gefallen hat, war in Kapitel 2 die Schilderung der Großstadt:


    Zitat
    …eine Straße, die zwischen zwei Reihen förmlich abgehackter Häuser gerade, und darum wie fliehend, in die Ferne sich verlief, wo aus vielem Dunst die Formen einer Kathedrale ungeheuer sich erhoben. Und morgens wie abends und in den Träumen der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der, von oben gesehen, sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinandergestreute Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich noch eine neue, vervielfältigte, wildere Mischung von Lärm, Staub und Gerüchen erhob, und alles dieses wurde erfasst und durchdrungen von einem mächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände verstreut, fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht wurde und das dem betörten Auge so körperlich erschien, als werde über dieser Straße eine alle bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen.


    Eine wunderbar kraftvolle Schilderung.


    diesen Abschnitt habe ich auch gemeint als ich schrieb:


    Zitat

    Beeindruckt hat mich in diesem Kapitel Rossmanns Beschreibung der Straße, die er von seinem schmalen Balkon beobachtet


    Zitat

    Ach, und die Frauen. Zwei sind bisher aufgetaucht und beide sind gleich abstoßend.


    Findest du?
    Das Dienstmädchen hat sich aber die Mühe gemacht, einen Brief an den Onkel zu schreiben und Klaras Benehmen ist uns unerklärlich, da wir keine Gründe für ihr merkwürdiges Benehmen bekommen, aber eigentlich hat sie ja nichts getan, außer, dass sie Rossmann zum Klavierspielen aufgefordert hat, und seine Reaktion ist da eher kurios.


    Zitat

    Habt Ihr früher auch „Das Haus am Eaton Place“ angeschaut? Da wurde doch auch der Sohn des Hauses nach Indien verschickt, nachdem er das Hausmädchen geschwängert hatte.


    Ja, daran kann ich mich noch erinnern. :zwinker:


    liebe Grüße
    dora, die Amerika beendet hat

  • Hi Klassikfreund!


    [quote author=Klassikfreund]Was mir bei deinen Beschreibungen (und einigen anderen Lesern) hier auffällt, ist dass ihr unwahrscheinlich eng an der Handlung klebt.[/quote]


    Richtig. Und ich weiss auch, dass ich mich davon lösen sollte, um einen anderen Zugang zum Buch zu finden und es vielleicht sogar zu mögen. Aber ich weiss auch, dass ich mich vor den hierzulande vorkommenden Spinnen nicht fürchten muss - und trotzdem bin ich nicht mal imstande, eine mit einem Glas einzufangen und sie nach draussen zu spedieren.


    Ich habe mich beim Lesen derart über die Charaktere (und zwar fast alle) aufgeregt, dass ich das Buch einfach nicht geniessen konnte. Auch wenn mir klar war, dass ich den Text vielleicht eher symbolisch als wörtlich deuten könnte/sollte/dürfte. Ich bin daran gescheitert. Macht aber nichts, es muss ja nicht jeder was mit Kafka anfangen können...


    Liebe Grüsse


    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Hallo zusammen!


    Ich schalte mich hier noch einmal in die Diskussion ein. Was mir bei deinen Beschreibungen (und einigen anderen Lesern) hier auffällt, ist dass ihr unwahrscheinlich eng an der Handlung klebt.


    Wenn ich auch kurz darf?


    Dies ist das eine, und ich weiss nicht, Klassikfreund, ob Du in dieselbe Richtung zielst wie ich. Das Kleben an der Oberfläche der Handlung ist, wie gesagt, das eine. Das andere sind die Vergleiche mit der Realität, die der Leser fast unwillkürlich zieht. Kafka aber ist m.M.n. alles andere als Realist. Seine völlig neutrale Sprache ohne Effekthascherei und ohne auktoriale Kommentare verführt dazu, ihn als Realisten wahrzunehmen. Doch was Kafka beschreibt, sind - salopp formuliert - im Grunde genommen Alpträume. Die haben eigene Logik, eigene Zusammenhänge. Und egal, was ich in einem Alptraum tue: Ich gerate immer tiefer in die Bredouille. Und das genau geschieht auch Kafkas Helden.


    Persönlich halte ich Kafka für einiges beängstigender als alles, was mir z.B. bisher von Leuten wie King untergekommen ist.


    $ 0.02


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)


  • . Das andere sind die Vergleiche mit der Realität, die der Leser fast unwillkürlich zieht. Kafka aber ist m.M.n. alles andere als Realist. Seine völlig neutrale Sprache ohne Effekthascherei und ohne auktoriale Kommentare verführt dazu, ihn als Realisten wahrzunehmen.


    Jein. Die ersten Kapiteln entsprechen keinem Realismus , wo ich Kafka aber als Realisten erlebe, ist im Kapitel Hotel Occidental.
    Die Beschreibung der unwürdigen Arbeitsbedingungen, die bedeutungslose, weil ersetzbare Arbeitskraft, vernichtet treffend den klischeehaften Traum von Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten oder Vom Tellerwäscher zum Millionär.


    Ein evidenter Alptraum ist ein Asyl, hingegen Das Naturtheater von Oklahomatraumhaft schön mit surrealistischen Elementen.


    liebe Grüße
    dora