Simone de Beauvoir - Alle Menschen sind sterblich

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    Originaltitel: Tous les hommes sont mortels

    Inhalt:


    Frankreich in den 1920er Jahren.
    Die Schauspielerin Regine steht kurz vor ihrem beruflichen Durchbruch und genießt ihren Ruhm sowie die Aussicht darauf, durch ihr Werk unsterblich zu werden. Sie ist ganz Kind ihrer Zeit - Amüsement, Selbstdarstellung und eine hedonistische Lebensführung bilden ihren Lebensmittelpunkt.


    In einem Gasthaus in der Provinz trifft Regine auf einen Mann, der tagelang unbeteiligt in einem Gartenstuhl liegt und nichts tut. Sie ist fasziniert von seiner totalen Reglosigkeit und seinem Gesicht, das "unbewegt wie das eines Toten" ist. Er ist ihr ein Rätsel, das sie lösen muss. Sie setzt alles daran, ihn kennenzulernen und hat Erfolg.


    Bei dem Mann handelt es sich um Fosca, einen Italiener, der 1279 in der Stadt Carmona geboren wurde. Durch einen Zaubertrank gewinnt er auf der Höhe seiner Macht die Unsterblichkeit - ein Geschenk, das sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem Fluch für ihn und die mit ihm verbandelten Personen verwandelt.


    "Alle Menschen sind sterblich" ist der Lebenbericht dieses Menschen und seiner Auseinandersetzung mit der (Un)Sterblichkeit. Dabei nimmt er den Leser mit auf eine Zeitreise in das 13./14. Jahrhundert (Italien), das 15. Jahrhundert am Hof des Kaisers Maximilians und später seines Enkels Karls V. Danach schaut er sich den neuentdeckten Kontinent an - nach Südamerika folgen Nordamerika und Kanada.
    Auch dort findet er nicht sein Glück. Er kehrt nach Europa zurück und erlebt in Frankreich zwei Revolutionen mit. Nach der letzten versetzt er sich in einen sechzigjährigen Schlaf - mit dem Ziel nicht mehr mit den Geschicken der Menschen behelligt zu werden. Eines hat er gelernt - er hat mit dem menschlichen Streben nichts gemein. Und obwohl er ein Fremdkörper ist, muss er akzeptieren, dass er er sich zwar zeitweilig zurückziehen, aber nicht für immer allein bleiben kann.


    Meine Meinung:


    Dies ist ein Roman, für den man sich Zeit nehmen muss. Er liest sich nicht nebenbei, gibt dem Leser dadurch aber sehr viel!


    Fosca ist ein Machtmensch, dessen Geltungsstreben und Wunsch nach einer besseren Welt in seiner Suche nach Unsterblichkeit mündet. Er hat realisiert, dass ein Menschenleben nicht ausreicht, um eine gerechte Welt zu schaffen. Als ihm eines Tages tatsächlich ein Trank das ewige Leben verspricht, trinkt er diesen. Er lebt von nun an, ohne zu altern. Natürlich sterben bald alle seine Bekannten. Er vergräbt sich in seiner Arbeit: dem Streben nach einem gerechten Staat. Dieses Werk im Kleinen reicht ihm aber bald nicht mehr - für eine Lösung auf großer Ebene ist es nötig Bündnisse zu schaffen und die Kleinstaaterei aufzugeben. Der Kaiser Maximilian scheint ihm dafür die geeeignete Person zu sein und so bietet er sich ihm als Berater an.
    Dieser Ortswechsel ist auch eine Flucht vor seiner Vergangenheit, merkt er doch zunehmend, dass er in seiner eigenen Stadt (Carmona) nur noch ein Fremder ist.


    Bald muss er erkennen, dass auch ein Kaiser nicht der absolute Herrscher ist, sondern auf verschiedenste Interessen Rücksicht nehmen muss. Enttäuscht wendet er sich neuen Abenteuern zu. Aber egal, was er wählt, er scheitert immer wieder mit seinen langfristigen Plänen.


    Der Ton des Romans ist nachdenklich und resignierend. Teilweise hat er mich förmlich nach unten gezogen, aber dann wieder vergisst man das Traurige, weil die Handlung so spannend ist! Die existentialistische Einstellung der Autorin scheint immer wieder durch. Im Mittelpunkt steht immer wieder die Frage danach, was den Menschen eigentlich ausmacht. Fosca rätselt viele Jahrhunderte lang darüber nach, was die Menschen in seiner Umgebung antreibt, sich unglücklich zu machen. Er kann es nicht verstehen und versucht seine Lieben entgegen ihres Willens zu retten. Im 19. Jahrhundert lernt er aber die Antriebskräfte der Menschen zu verstehen:


    Zitat von "S. 284"

    Es war weder Hochmut noch Narrheit; soviel verstand ich jetzt. Sie waren Menschen, die ihr Menschengeschick erfüllen wollten, indem sie sich ihr Leben und ihren Tod selber wählten, sie waren freie Menschen.


    Fosca begreift zunehmend seine Unfreiheit und will sich vom Leben zurückziehen. Wird er - wie am Anfang darin durch Menschen wie Regine - gestört, versucht er sich jedweder Anteilnahme zu erwehren. Wird sein Geist erst wieder lebendig, kann er sich (verständlicherweise) einer gehörigen Portion Melancholie nicht entziehen. Sein Leben gestaltet sich immer wieder wie ein Kampf gegen Windmühlen.


    Der Epilog ist sehr toll konstruiert und war für mich das "Tüpfelchen auf dem i". Deshalb:
    4ratten

    Ich werde kein&nbsp;Geld hinterlassen. Ich werde keinen Aufwand und Luxus hinterlassen. Aber ich möchte ein engagiertes Leben hinterlassen.<br />(Martin Luther King)

  • Hallo marilu,



    Die existentialistische Einstellung der Autorin scheint immer wieder durch.


    Ja, diesen Eindruck gewann ich schon auf den ersten hundert Seiten:


    Regine ist eine talentierte Schauspielerin, die kurz vor dem Start ihrer Karriere steht. Sie möchte berühmt und erfolgreich sein.


    Ich existiere, ich habe Talent, ich werde eine große Schauspielerin werden. Und sie sind einfach blind.


    Das sagt Regine zu Raymond Fosca, der im 14. Jahrhundert einen geheimnisvollen Trunk zu sich nahm, der ihn unsterblich machte. Seit 600 Jahren geistert er in der Weltgeschichte umher. Menschen krallen sich an ihr Leben, glauben an ihren Erfolg, glauben, sie seien etwas besonderes, dabei geht ihr Leben nur im Flug vorbei, an sich bedeutungslos. Ja Fosca, der Unsterbliche, hat eine ganz andere Sichtweise auf unser sterbliches Leben:


    Ich sah das Blut und fing zu lachen an. Dann trat ich an das Fenster und atmete tief ein...meine Frau war tot, tot ihr Sohn, ihre Enkel. Alle meine Gefährten tot. Ich lebte, und es gab keinen meinesgleichen mehr. Die Vergangenheit war von mir gefallen; nichts hemmte mich nun mehr. Keine Erinnerung, keine Liebe und keine Pflicht, ich war ohne Gesetz, ich war mein eigener Herr; ich konnte nach Belieben schalten mit diesen armen Leben der Menschen, die alle dem Tode verfallen waren. Unter dem Himmel ohne Gesicht reckte ich mich auf, lebendig, frei und für immer allein.


    Als Unsterblicher hat sich Fosca selber vom Leben entfernt. Nichts hat für ihn noch Bedeutung.


    Zu Regine sagt er:


    Wenn Sie spielen...glauben Sie so leidenschaftlich an Ihre Existenz! Ich habe das bei zwei oder drei Frauen in der Anstalt gesehen; aber sie glaubten nur an sich. Für Sie sind auch die anderen da, und manchmal ist es Ihnen sogar geglückt, mich selber zum Existieren zu bringen.


    Wenn wir Regine und Fosca aus der Sicht des Existentialismus betrachten sieht es folgendermaßen aus: Regine ist die Existenz, Fosca existiert nicht, weil er nicht am Leben teilnimmt (er möchte durch Regine wieder in die Existenz zurückkommen, ob das schließlich gelingt, steht noch offen, wohl eher nicht, nehme ich an.).


    In der „Geschichte der Philosophie“ von Johannes Hirschberger können wir im Kapitel über den französischen Existentialismus nachlesen, dass Jean Paul Sartre die Existenz vor der Essenz vorausgehen lässt.


    Der Mensch tritt an die Stelle Gottes und gestaltet sein eigenes Wesen selbst“, heißt es. Der erste Grundsatz des Existentialismus: „der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht (L'homme n'est rien d'autre que ce qu il se fait).


    Raymond Fosca macht aus sich nichts mehr etwas:

    Ich lebe und habe kein Leben...Wenn man wenigstenz wirklich ein absolutes Nichts sein könnte! Aber es gibt immer wieder andere Menschen auf Erden, die einen sehen. Sie sprechen, und man muß sie hören, man muß ihnen Antwort geben, man muß wieder zu leben beginnen, wenn man auch weiß, daß man nicht existiert. Und das hört niemals auf.


    Wie wir gesehen haben, ist ein Gott im Existentialismus nicht notwendig. So hatte auch Regine in unserem Roman aufgehört, an Gott zu Glauben.


    Ich bleibe mir selber treu, ich lasse mich selbst nicht im Stich. Ich werde sie zwingen, mich so leidenschaftlich zu bewundern, daß jede meiner Gesten ihnen heilig ist. Eines Tages werde ich um meine Stirn einen Glorienschein spüren.


    Die Charaktere der Figuren bilden sich im gesprochenen Dialog. Nebenfiguren bleiben dadurch blass. Trotzdem, mich stört das hier gar nicht, denn für mich ist der philosophische Gehalt des Romans wichtig. Es sieht so aus, als handele es sich um eine Einführung in den Existentialismus. Liebend gerne lese ich in dem Roman, weil über das Dasein des Menschen in der Welt philosophiert wird, und bei mir tiefen Eindruck hinterlässt. Ich habe z.Zt. etwa ein Drittel dieses herrlichen Romans gelesen.


    Liebe Grüße
    mombour

  • In dem Roman wird man mit historischen Fakten konfrontiert. Zu anfangs ist Fosca Fürst von Carmona (Italien) und steht in kriegerischem Fuß mit Genua. Wenn ich nur den Blick auf die Historie schaue, wurde es für mich am interessantesten, als Fosca Berater von Karl V. (1500-1558) war, denn Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dürfte auch so manchem an seinen Geschichtsunterricht erinnern. So erleben wir im Roman Auseinandersetzungen mit der Bewegung des Dr. Martin Luther und auch mit den Täufern, die von Lutheranern polemisch als Wiedertäufer bezeichnet wurden.


    Karl V. über Luther:


    "Ein einzelner Mönch, der sich auf sein eigenes Urteil stützt, hat sich jenem Glauben widersetzt, dem die Christenheit anhängt seit mehr als tausend Jahren.“


    Damit wird der Zeitgeist getroffen. Nur die katholische Kirche durfte sagen was ist und was nicht.


    Im Existentialismus heißt es aber:


    „Aber wenn wirklich die Existenz der Essenz vorausgeht, so ist der Mensch verantwortlich für das, was er ist“ (J.P. Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? ).


    Fosca setzt sich für Eintracht ein:


    "Solange wir nicht überall gärende Zwietracht der Geister besiegt hatten, war unser politischer Einheitstraum nicht zu verwirklichen...Durch die Verfolgungen steigerten wir nur den Eigensinn der Ketzer...“


    Auf seine Forderung, die Menschen sollen eins werden, erhält er die Antwort, es gebe nur Gutes, nach seinem Gewissen zu handeln. Ob nun dadurch immer gutes Handeln entsteht, ist keineswegs gesagt, denn Fosca erlebt in seinem Erleben durch die Jahrhunderte nur die Pest, Gewalt und Krieg. Der Mensch kann nicht glücklich werden. Er baut alles auf, dann geht alles zunichte, und er baut es wieder auf.


    Einer der „Wiedertäufer“ spricht zu Fosca:


    >>„Wenn es wirklich erstände und die Menschen glücklich wären, was bliebe ihnen dann auf Erden zu tun?...Die Welt lastet so schwer auf uns. Es gibt nur ein Heil: vernichten, was geschaffen worden ist.“


    „Welch seltsames Heil“ sagte ich.<<



    Die vielen historischen Fakten können manchen Leser vielleicht erdrücken, aber wie schon gesagt, der philosophische Gehalt ist entscheidend. Das wird hängenbleiben.


    Liebe Grüße
    mombour

  • Hallo mombour,
    begeistert lese ich deine Kommentare! Du steigst ja echt tief ein! Das beeindruckt mich sehr. Leider ist meine Lektüre zu lange her, um mich detailliert zu erinnern, aber vieles was du sagst, habe ich auch so empfunden. Besonders die Tatsache, dass man alles erbaute wieder zerstört, wieder erbaut und wieder zerstört, muss jeden so Denkenden in einen Abgrund treiben. Dieser Ansatzpunkt ist sicher auch die Motivation meines Mitleids mit Fosca gewesen.


    Ich freue mich auf weitere Kommentare von dir!

    Ich werde kein&nbsp;Geld hinterlassen. Ich werde keinen Aufwand und Luxus hinterlassen. Aber ich möchte ein engagiertes Leben hinterlassen.<br />(Martin Luther King)

  • Hallo marilu,


    ich freue mich, dass ich dir den Roman nochmal in deine Erinnerung holen konnte. Ja, ich steige hier ein wenig hinein (die Thematik ist sehr interessant) und habe auch noch vor, ein wenig Sartre zu Lesen (z.B. "Der Ekel").


    Hundert Seiten muss ich noch lesen, dann gebe ich meinen Schlusskommentar.


    bis dahin


    Liebe Grüße
    mombour

  • Es bleibt dabei. Fosca bleibt die tragischste Figur unter den Menschen, denn er kann nicht am Leben der Menschen teilnehmen.

    Zitat von "de Beauvoir"


    ein Leben, tausend Leben sind nicht gewichtiger als ein Flug Eintagsfliegen.


    Der Roman macht sehr deutlich, nur durch den Tod, der unausweichlich ist, sind wir in der Lage unser Leben wertzuschätzen, haben wir Gelegenheit, unsere Zeit sinnvoll zu nutzen. Was nützt dem Unsterblichen eine Liebesbeziehung?


    Zitat von "de Beauvoir"

    Ein paar Tage, ein paar Jahre lang. Dann liegt sie da auf dem Bett mit dem geschrumpften Gesicht...


    Fosca, der als Unsterblicher eher zu den Toten als zu den Lebenden gehört, ist zu einem sinnlosen Dasein verdammt.


    Liebe Grüße
    mombour

  • Simone de Beauvoir ist meiner Meinung nach eine tolle Autorin. "Alle Menschen sind sterblich" hat mir auch sehr gefallen, auch wenn es sich bei mir ziemlich hingezogen hat. Für meinen Geschmack war einfach zu viel Geschichte dabei, das hat mich hin und wieder vom Wesentlichen abgelenkt.

  • Hi,
    verzeiht, ich habe gekramt und fand das hier. Ich habe jedes einzelne Beauvoirbuch gelesen und liebe ihre Werke sehr. Leider ist das hier beschriebene nicht besonders. Wenn ich an die "Mandarins von Paris" denke oder " Die Welt der schönen Bilder" geht mir mein Herz auf. Beauvoir war Meisterin der Beziehungsdarstellung. Ich möchte Euch allen diese Schriftstellerin ans Herz legen, denn sie wird ja oft in Zusammenhang mit Alice Schwarzer und Feminismus gebracht, was auch richtig so ist, aber viele schreckt das ab ("vielleicht könnte das zu wissenschaftlich werden"???), was nicht sein sollte, weil rein schreibtechnisch ist die Beauvoir ein Lesevergnügen. So, was will ich sagen? Ich will sagen: lesen, lesen, lesen.
    Wer Briefe mag, bitte lese "Eine transatlantische Liebe" Briefe an Algren. Wirklich toll!


    So, wie gesagt, das Buch finde ich nicht besonders, aber weil ich sie sehr liebe gebe ich


    5ratten


    und


    4ratten ehrliche.




    al cori

  • Ich kaue gerade etwas an diesem Buch herum.


    Wie mombour hier so schön geschrieben hat...



    Die Charaktere der Figuren bilden sich im gesprochenen Dialog. Nebenfiguren bleiben dadurch blass. Trotzdem, mich stört das hier gar nicht, denn für mich ist der philosophische Gehalt des Romans wichtig. Es sieht so aus, als handele es sich um eine Einführung in den Existentialismus.


    Ja, der philosophische Gehalt ist mir ebenfalls wichtig, aber nicht ausschließlich, sonst hätte ich zu einem Philosophiebuch gegriffen. Mir gefällt die Umsetzung nicht so recht. Die Charaktere bilden sich wirklich ausschließlich aus den Dialogen, aber auch da nur ziemlich plump. Ich bin gerade mal auf Seite 90, den Prolog habe ich (Gott sei Dank!) hinter mir, jetzt gefällt es mir ein klein wenig besser, so etwas wie Handlung kommt auf. Jedoch werde ich im Gegenzug mit historischen Fakten zugeschüttet, dass es nur so eine Freude ist.


    Irgendwie habe ich mir hier mehr erwartet... mal sehen, was noch kommt.

    "Man hat in der Welt nicht viel mehr, als die Wahl zwischen Einsamkeit und Gemeinheit." A. Schopenhauer

    :blume::engel::katze: