[Klassiker] Julien Green - Adrienne Mesurat

Es gibt 2 Antworten in diesem Thema, welches 1.750 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Valentine.

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    Adrienne Mesurat ist 18 Jahre alt und lebt nach dem frühen Tod der Mutter allein mit ihrem griesgrämigen, herrischen und schon etwas debilen Vater und ihrer viel älteren Schwester, der kränklichen alten Jungfer Germaine, in einer langweiligen französischen Kleinstadt, wo Konventionen und Gewohnheiten alles sind.


    Unter den Argusaugen Germaines und des Vaters führt Adrienne ein beengtes Leben, eingeschnürt ins Korsett des ewiggleichen Alltags, auf dem ihr Vater besteht. Jeden Tag geht sie zur gleichen Zeit in den Garten hinaus, um frische Blumen zu schneiden, staubt die Möbel im Salon ab, spielt gezwungenermaßen Karten mit Vater und Schwester.


    Dabei möchte sie so gerne hinaus in die Welt. Sie hat sich unsterblich in Denis Maurecourt, den Dorfarzt, verliebt, als sie ihn einmal im Städtchen gesehen hat. Von Germaines Zimmer aus kann sie in sein Haus blicken, doch als sie dabei erwischt wird, ist es vorbei mit der heimlichen Späherei, Vater und Schwester finden es höchst verdächtig, wie Adrienne da endlos lang aus dem Fenster blickt, und verdonnern sie zum allabendlichen Kartenspiel.


    Und noch etwas erregt Adriennes Neugier: die "Villa Louise" nebenan ist in diesem Sommer an eine neue Mieterin vergeben, eine gewisse Madame Legras, deren Ankunft Adrienne gespannt erwartet, weil sie sich davon Abwechslung erhofft.


    Tatsächlich wird sie eines Tages eingeladen von dieser Frau, die allein in der Villa lebt und sich auffällig kleidet und schminkt, was natürlich im Städtchen für Klatsch und Tratsch sorgt. Doch genießen kann sie diesen kleinen Freiraum nicht - früh am selben Tag ist Germaine aufgebrochen, nachdem Adrienne ihr Geld geliehen hat, um fortan in einem Kloster zu leben und der Fuchtel des Alten zu entrinnen. Adrienne ist nun mit dem tyrannischen Greis alleine, der sie nun nur noch strenger überwacht und gar nachts im Haus einschließt. Eines Tages kommt es zu einem fatalen Treppensturz des alten Mannes ...


    Es passiert nicht viel in dem Buch. Die Ereignisse, um die es hier "seitenweise" geht, hätten in einem temporeicheren Buch vielleicht ein paar Sätze eingenommen. Genau dadurch, dass dieser langweilige, farblose Alltag so detailliert gezeichnet wird, bekommt man als Leser/Hörer einen Geschmack davon, wie es ist, in diesem öden Ort zu leben, wo Konventionen und Vorurteile den Alltag beherrschen und man ja nichts tun darf, was den Gepflogenheiten zuwiderläuft.


    Man kann Adrienne gut nachfühlen, wie sie sich eingeengt fühlt, wie ihr diese starren Regeln die Luft zum Atmen nehmen und ihr eine freie Persönlichkeitsentfaltung versagen, wenn der Vater ihr sogar harmlose Phantastereien verbieten will. Die Frage, ob sie es irgendwann schaffen wird, sich dem Vater zu widersetzen, wie sich ihr Verhältnis zu ihrem angebeteten Doktor entwickeln wird und was aus ihrer Freundschaft mit der unstandesgemäßen Madame Legras wird, haben mich trotz einer teils schon fast nervtötend ruhigen, langsamen Erzählweise bei der Stange gehalten.


    Sollte ich dem Buch eine Farbe geben, wäre es grau, die Farbe von Traurigkeit, Tristesse, Langeweile. Das ist aber durchaus nicht negativ gemeint, denn Julien Green gelingt es, eben diese Spießigkeit, Konventionalität und Lethargie, an der Adrienne zu zerbrechen droht, plastisch zu schildern.


    Das Hörbuch wird von Udo Samel gelesen, im großen und ganzen auch gut, man kann ihm gut zuhören und muss ihm zugute halten, dass er die französischen Namen und Orte sehr korrekt ausspricht. Leider hat er aber auch eine Eigenart, die ich zunehmend nervig fand: er versucht den Personen einen eigenen Tonfall zu geben, was gerade bei vielen Frauengestalten ziemlich daneben geht. Während der weinerliche Tonfall einer kränkelnden alten Jungfer (oder doch Hypochonderin) bei Germaine noch ganz ordentlich getroffen ist, wirkt die Piepsstimme, die er Adrienne gerade zum Ende hin gibt, unpassend und künstlich-aufgesetzt.


    Die Ausstattung ist nichts Besonderes, sechs Kassetten in drei Plastik-Doppelboxen und das Ganze in einem Pappschuber.


    Die Geschichte muss man mögen, doch wer sich auf ein ruhiges Psychogramm einlassen möchte, könnte Gefallen daran finden.


    3ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





    Einmal editiert, zuletzt von Valentine ()

  • Liebe Valentine,


    was für eine wunderbare Rezi! Sie liest sich als würde man einen Roman selbst lesen, sogar mit Metaphern und Vergleichen. Wow, echt! :anbet: Richtig toll finde ich die Farbgebung!


    Du hast so schön geschrieben, dass ich jetzt, ohne je vorher was davon gehört zu haben und trotz der Tristesse und den (in meiner Vorstellung gerade schrecklichen) Stimmennachahmungen des Vorlesenden Lust auf die Geschichte bekommen habe.


    Liebe Grüße,
    melima

  • Och, Du bist ja süß :bussi:


    Das war eines dieser (Hör-)Bücher, bei dem mir schon während des Hörens/Lesens Bruchstücke für die Rezension im Kopf herumschwirren. Ich bin wahrscheinlich eindeutig literaturgeschockt :breitgrins:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen