Nun, die Aggressionen und der Hass, den Joyce auf die katholische Kirche empfunden hat, kann ich teilweise nachvollziehen.
Man muss vor allem bedenken, dass das Erscheinungsbild und der Einfluss der katholischen Kirche damals ein ganz anderer war wie heute.
Wenn wir heute an die katholische Kirche denken, sehen wir im Fernsehen einen freundlich winkenden Papst, Jugendfestivals, eine Kirche, die stark an gesellschaftlichem Einfluss und an Macht verloren hat.
Das war damals gaaanz anders. Der tridentinische Katholizismus, wie ich ihn noch als Kind erlebt habe, war dogmatisch, engstirnig, antiwissenschaftlich, antiintellektuell, sexualfeindlich, mit ungeheurem Machtanspruch und einer Unterdrückung jeglicher natürlicher Gefühle sondergleichen.
Jüngere Menschen, die das nicht erlebt haben, machen sich kaum eine Vorstellung, wie rigide und dogmatisch eine damalige katholische Erziehung lief.
Ulla Hahn hat diese Mechanismen in ihrem Roman "Das verborgene Wort", eine Kindheit in den 50er Jahren auf dem Land, sehr detailliert beschrieben.
Es war auch nicht so sehr die Sexualfeindlichkeit, sondern der Dogmatismus und Anitintellektualismus der damaligen Zeit um 1900.
Es herrschte noch der "Syllabus" von Pius IX., es gab noch den Index Prohibitorum Librorum, wo sich die gesamte neuzeitliche Philosophie und Literatur einfand.
Wenn man damals ein Buch las, was auf dem Index stand, beging man eine Todsünde und musste sofort zur Beichte. Die Busse war natürlich, kein solches Buch mehr zu lesen. Unter Androhung von Höllenstrafen zensierte die Kirche damals die Lektüre.
Eigene Gedanken waren auch nicht erlaubt, es war eine Todsünde, Glaubenszweifel zu haben, und man musste sofort wieder zur Beichte.
Für einen sensiblen Intellektuellen wir Joyce muss das die Hölle gewesen sein.
Der Philosoph Martin Heidegger hat das in einem Brief ebenso beschrieben.
Und da in Irland die katholische Kirche fast allmächtig war, konnte sie auch den Druck von Büchern zensieren.
Ausserdem war damals den Kindern jegliches natürliche Gefühl mehr oder weniger verboten. Wenn man sich über die Eltern ärgerte, weil sie einen ungerecht behandelten, war das eine Sünde und man musste zur Beichte. Sexuelle Gefühle waren sündhaft und man musste zur Beichte. Neid, Missgunst, zuviel Essen und Trinken, all das waren Sünden, die man beichten musste, am besten noch jede Woche.
Ausserdem war die Angst allgegenwärtig. Angst zu sündigen, Angst vor dem Pfarrer, die damals im Religionsunterricht noch feste drauflosschlug, (habe ich noch selbst erlebt!), Angst vor Autoritäten, das wurde einem ganz gründlich eingeimpft.
Angst vor der Hölle wurde systematisch geschürt, um die Schäfchen bei der Stange zu halten. Ich erinnere mich da an die sogenannten "Missionen", wo fremde Pater die 5jährigen mit dem Leiden Christ in einem Sadismus konfrontierten, der heute die Eltern auf den Plan rufen würde.
All das ist der Hintergrund von der Abneigung Joyce´gegen die katholische Kirche.
Ralf