Hallo Bluebell!
Zitat von "Bluebell"
Das hast du an anderer Stelle auch schon mal erwähnt. Ist dieses Bild tatsächlich so falsch? Mich interessiert brennend, wie es wirklich war - kannst du mir vielleicht ein bisschen was darüber erzählen (falls das in diesen Thread passt)?
Eigentlich schon, denn unser Mittelalterbild ist das Ergebnis einer monströsen Geschichtsfälschung, die vor allem die französische Aufklärung durch Diderot und Voltaire betrieben haben, aber zuvor schon Descartes.
Das Selbstbewußtsein dieser Herren war schon gigantisch. Aber wenn man in einer der grausamsten Epochen lebt und diese dann als Krönung deklarieren möchte, dann muß man alles, was je zuvor geschehen ist, als finster und barbarisch verunglimpfen.
Gelernt haben die frz. Aufklärer das übrigens von den Reformatoren, die das Kind mit dem Bade ausschütteten, indem sie nicht nur die z.T. haarsträubenden Zustände innerhalb der Heiligen Mutter Kirche anprangerten, sondern dafür gesorgt haben, daß die billigsten Kolportagen allein durch ihre Flugschriften den Anschein von "Wahrheit" erhielten -- das betrifft z.B. die "Päpstin" und ähnlichen Quatsch.
Keimzelle war hier die berühmte querelle des anciens et des modernes, in deren Gefolge alles, was vor dem Zeitalter des "Sonnenkönigs" lag, als Barbarei abgestempelt wurde. Der Bannstrahl traf zunächst den Dreißigjährigen Krieg, wurde dann aber ad infinitum ausgerichtet, bis er in der historischen Ferne wieder ein Leuchtfeuer auszumachen wähnte: das imperium Romanum.
Zitat
Zum Beispiel was die Hygiene betrifft. Ich dachte immer, dass im Mittelalter die Kanalanlagen der Römer schon wieder weitgehend in Vergessenheit geraten waren und die Leute ihren Unrat und ihre Nachttöpfe einfach aus dem Fenster auf die Straße gekippt haben. Ist das so eine Fehlinformation, von denen du sprichst? Wie ist das Problem denn wirklich gelöst worden?
In den Städten gab es immer dann Hygieneprobleme, wenn die Bevölkerungsdichte überhand nahm. Üblicherweise wurden Urin und Exkremente und Urin von Bauern und Gerbern gesammelt, kompostierbare Abfälle wurden zumeist selbst verarbeitet und im eigenen Garten verwendet oder zusammen mit Exkrementen und Mist von Haustieren getauscht. Das Prinzip des Düngens war seit der Römerzeit bekannt! Auch die Römer haben einen Großteil des Mistes nicht einfach in die Flüsse gekippt, sondern genutzt. Burgen als landwirtschaftliche Großbetriebe haben ebenfalls ihre Abfälle auf diesem Weg recyclet. Abfälle waren Rohstoffe!
Allerdings gehörten diejenigen, die mit diesen Substanzen arbeiteten, grundsätzlich niedrigen sozialen Schichten an, vermutlich nicht zuletzt aufgrund der Geruchsbelästigung, die von ihnen ausging. Niemand wohnte freiwillig in einem Gerberviertel!
In den Städten gab es Badehäuser, die sich großer Beliebtheit erfreuten. Die Hygiene war weitaus besser, als wir uns das heute so denken. Die klösterliche Medizin empfiehlt sehr häufig Waschungen und Bäder als Heilmethoden, also muß das Waschen und Baden etwas Normales gewesen sein.
Man kann das vergleichen mit (noch) funktionierenden (weil nicht überbevölkerten) Siedlungen in den Entwicklungsländern: Alles, was noch irgendwie verwertet wird, wird verwertet, und deshalb bleibt am Ende sehr wenig, was unverwertbar ist. Dieses Unverwertbare wird dann vor die Stadt gekarrt und vergraben.
Die Entwicklung verschiebt sich im Zuge der Armutsbewegungen; der gnostische Gut-Böse-Dualismus der Katharer (Albigenser) betrachtet den Leib als Werk des Teufels, jede Bemühung, ihn zu pflegen und zu erhalten, als Sünde. Ähnlich die Büßerbewegungen der Geißler. Auch Teile der Minoriten übernahmen die Vorstellungen der Leibfeindlichkeit, die das mittelalterliche Christentum ursprünglich ablehnt.
Im Zuge der Leibfeindlichkeit und der daraus resultierenden mangelnden Hygiene verbreiteten sich Seuchen, die wiederum die Büßertendenzen anheizten (die Leobfeindlichkeit stärker verinnerlichen) und einen Fatalismus Vorschub leisteten, der auch dazu führt, daß die Äcker nicht mehr gedüngt wurden, daß also Exkremente und Mist einfach liegen blieben!
In den Armenvierteln mittelalterlicher Städte dürften speziell aufgrund der zunehmenden Landflucht und der daraus resultierenden Enge ähnliche Bedingungen geherrscht haben wie in den Slums in der Dritten Welt heute. Man lebte dort auch vom Müll der Bessersituierten.
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Oder die Hexenverbrennungen - stattgefunden haben die ja wohl. Aber erst nach dem Mittelalter, oder wie meinst du das?
Im Mittelalter spielte die Verfolgung von Hexerei so gut wie keine Rolle! Das Augenmerk kirchlicher Verfolgung lag auf der Ketzerei, womit insbesondere die Katharer (Albingenser) gemeint waren.
Viele findest du im Portal Hexenverfolgung von historicum.net (Uni Köln).
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Was hier vielleicht ganz am Rande auch dazupasst: es gibt doch diese Theorien (und Bücher) über das "erfundene Mittelalter" - also dass ganze Jahrhunderte in der Geschichtsschreibung einfach dazugedichtet wurden. Das kommt mir persönlich dann ja doch etwas zu weit hergholt vor, aber vielleicht kennt sich von euch jemand damit aus!?
Nur soweit, daß es derlei Theorien schon zu allen Zeiten gegeben hat. Das hat etwas mit der apokalyptischen Vorstellung eines Tausendjährigen Reiches zu tun. Als nach dem Jahre 1000 n.Chr. die Welt nicht unterging, fingen die Theologen wie wild an zu rechnen, weil man der Überzeugung war, man müsse sich verrechnet haben, denn die Schrift könne ja nicht irren. Vor dem Jahr 1500 ging die Weltuntergangshysterie wieder los -- damals zum ersten Male mit der Idee, es sei um (min.) 500 Jahre geschummelt worden.
Deshalb ist es kaum verwunderlich, daß ausgerechnet kurz vor der zweiten Jahrtausendwende, die auch von einem Schub Massenhysterie begleitet war, jemand mit mit dieser Mär Furore zu machen versuchte.
Liebe Grüße,
Iris